bücher aus den charts : Trivial, aber immerhin spannend: Gilt das noch beim Meister des US-Thrillers? Das neue Buch von John Grisham
Früher gab es „Aktenzeichen XY ungelöst“; da ging ein Rentnerehepaar durch den Wald; im Unterholz blitzte ein nackter Fuß hervor; die Frau sagte: „Herbert, da ische Leich‘ “. Schnitt. Mittlerweile versorgen uns die Privatsender mit US-Formaten, die Titel tragen wie „Autopsie“; semidokumentarische und semifiktional aufbereitete Mordfälle, garniert mit knallharten Ermittlern, ausgebufften Pathologen und ganz viel Täter- und Opferpsychologie. Alles hier wird grell ausgeleuchtet. Freunde dieser kriminalistischen Spielart, also solche, die alles ganz genau wissen wollen – beispielsweise dass sich Spermaspuren in Vagina und Anus (neben dem Deckel einer Ketchupflasche) des Opfers, nicht aber in dessen Mund finden ließen –, werden John Grishams neues Buch verschlingen.
Es ist sein erstes Sachbuch, es erzählt eine wahre Geschichte, und, so berichtet er im Nachwort, „ich hätte fünftausend Seiten schreiben können“. Ein erster Dank geht an diejenigen, die ihn daran gehindert haben.
Der Fall ist ganz einfach: Kleinstadtschönheit wird tot in ihrer Wohnung aufgefunden, brutal ermordet, die wahren Täter belasten Ron Williamson, einen abgehalfterten Ex-Baseballprofi, der ohnehin schon einige Male unter Vergewaltigungsverdacht stand, Polizei und Justiz schlampen in unverantwortlicher Weise, der Falsche wird verurteilt. Als der Irrtum aufgedeckt wird und Ron nach 11 Jahren und kurz vor der Hinrichtung freikommt, ist er ein noch gebrochenerer Mann als vorher (und da war er schon ein gebrochener Mann) und stirbt bald darauf als vollkommen gebrochener Mann.
Aber es gibt einen Trost: „Ein tragisches Leben war vorüber, und Ron war nun in einer besseren Welt. Darum hatte er gebetet. Endlich war er frei.“ Bis es so weit ist, hat er aber ein ganz schön schlimmes Leben. Zum Glück hat er auch den Alkohol, aber der verursacht Depressionen. Oder ist es umgekehrt?
Kaum taucht eine neue Figur im Spiel auf, schon lässt Grisham es sich nicht nehmen, deren gesamte Lebensgeschichte zu erzählen. Hieß es nicht irgendwo einmal, dieser John Grisham sei zwar trivial, aber wenigstens würde er ungeheuer spannende Bücher schreiben? Wenn das so sein sollte, hat er sich hier verirrt in einer Faszination für das Faktische: „Ron wurde in den F-Trakt aufgenommen. Er erhielt zwei kakifarbene Hosen, zwei blaue Hemden mit kurzen Ärmeln, zwei weiße T-Shirts, zwei paar Socken und zwei weiße Boxershorts. Die Kleidung war gebraucht. Sie war sauber, hatte aber dauerhafte Flecken, vor allem die Boxershorts.“ Könnte es so gewesen sein? War es so? Und wenn es so gewesen sein sollte – wen zur Hölle interessiert das?
Im Gefängnis ist der manisch-depressive Ron nur „der Irre“, aber auch und selbst da ist nicht alles schlecht: „Nicht alle Wärter waren herzlos. Einmal blieb eine Wärterin spät am Abend vor Rons Zelle stehen, um sich mit ihm zu unterhalten. Er sah furchtbar aus und sagte, er sei am Verhungern, weil er seit Tagen nichts gegessen habe. Sie glaubte ihm und kam nach wenigen Minuten mit einem Glas Erdnussbutter und einem Laib altem Brot zurück.“ Eine Mutter Theresa des Strafvollzugs. Immer wieder trifft man im Buch auf solche Helden, die auch so genannt werden. Was wäre John Grishams Welt, wenn sie nicht eindeutig kategorisierbar wäre? Gleich vier Übersetzer haben an der deutschen Fassung gearbeitet (davon merkt man nichts).
Dazu noch einmal das Nachwort: „Die finanzielle Verschwendung ist schlimm genug, aber wirklich verheerend sind die menschlichen Opfer.“ Der Satz gilt fürs US-amerikanische Strafsystem. Und auch für deutsche Leser. CHRISTOPH SCHRÖDER
John Grisham: „Der Gefangene“. Aus dem Englischen von Bernhard Liesen, Bea Reiter, Kristina Ruhl und Imke Walsh-Araya. Heyne Verlag, München 2006, 464 Seiten, 19,95 Euro