bernhard pötter über Kinder : Der junge Mann und das Meer
Wir unterstützen den Kampf für die Wale. Auch wenn er unsere Lebensgrundlagen bedroht
Auf dem Wochenmarkt am Kreuzberger Landwehrkanal kommt man aus dem Staunen nicht mehr raus. Die türkischen Gemüsehändler spalten Wassermelonen wie Holzscheite. Dem Biobäcker geht immer schon am Nachmittag das Sonnenblumenbrot aus. Der Apfelverkäufer weigert sich, mit seinen Kunden zu sprechen. Und die polnische Gemüsefachverkäuferin ist überzeugt von der Qualität der Möhren: „Die sind aus Deutschland. Mit denen kannst du reden.“
Man ist hier einiges gewöhnt. Aber ein Wal schwimmt doch nicht so häufig vorbei.
Deswegen machte Jonas auch große Augen. Direkt hinter dem Stand mit den frischen Fischen tanzte das dunkelgraue Ungetüm auf den Wellen des Kanals. Vielleicht zehn Meter lang, mit imposanter Schnauze und Schwanzflosse. Es war ein Wal. Eindeutig.
Okay, er war aus Pappmaschee. Oder Gummi. So genau konnten wir das nicht sehen, weil ihn die Schlauchboote so schnell an uns vorbeizogen. Die Aktivisten von Greenpeace waren auf dem Wasserweg zum Estrel-Hotel in Berlin-Neukölln, wo die Internationale Walfangkommission IWC tagte. Die Umweltschützer wollten gegen das Abschlachten der Meeressäuger protestieren. Das weiß auch Jonas: „Die von Grienpies stellen sich vor die Wale, wenn die abgeschossen werden sollen, oder?“
„Ja. Sie fahren mit ihren Schlauchbooten vor die Wale“, sagte ich. Machen sie das eigentlich wirklich noch?, dachte ich dann. Na, egal.
„Wie schießen die denn die Wale?“
„Mit einer Harpune.“
„Und warum schießen die die Wale?“
„Weil sie die essen wollen.“ Die Japaner werden das nicht gern hören. Aber es ist die Wahrheit.
„Haben die keine anderen Fische?“
„Doch, jede Menge.“
„Und warum töten sie dann die Wale?“
„Weil sie das schon immer machen.“
„Komisch.“
Gar nicht komisch. Wer seit Jahrhunderten Wale tötet, um Fleisch, Speck, Tran oder sonstiges Glibberzeug zu bekommen, hört damit noch lange nicht auf, wenn er Rinder oder Schweine hält, die Lampen mit Strom betreibt und den Wackelpudding aus der Tüte kauft. Schließlich sollen sich die Walfangschiffe amortisieren, und der japanische, isländische oder norwegische Way of Life fordert Walsteak auf dem Grill. Und weil das so ist, hat der Protest gegen diese mittelalterliche Form der Meeresernte inzwischen ebenfalls Tradition. Beide Seiten kämpfen mit harten Bandagen. Die Walfänger, indem sie ihre Harpunen durchladen, den Südwester tief ins wettergegerbte Gesicht ziehen und alle Vernunft und alle Regeln ignorieren. Die Tierschützer, indem sie inzwischen die Kinder vorschicken: „Ich will, dass meine Kinder auch noch Wale sehen“, sagen dann die jüngsten Regenbogenkrieger tapfer vorbereitet in die wartenden Kameras. „Die sollen die nicht alle abschießen.“
Das findet auch bei uns ungeteilte Zustimung. Delfine nutzen wir nur in Plastikform als Wasserpistolen. Walspeck wollen meine Kinder einfach nicht probieren. Und Wahlkämpfe betrachten wir nur am Fernseher.
Aber ein bisschen unbehaglich fühle ich mich schon bei der völlig berechtigten Verdammung der Waljäger. Es ist einfach, mit dem Finger auf andere zu zeigen, wenn einen selbst das Thema nicht stört. Vielleicht sind wir Deutschen ja auch ganz froh, Sündenböcke gefunden zu haben, die mit der Natur so umgehen wie wir bis vor ein paar Jahrzehnten. Wir haben unsere Urwälder gerodet, unsere Bären, Wölfe und Elche verjagt und bauen noch in den letzten Winkel eine Autobahn. Aber den Walfang müssen wir unbedingt beenden. Schließlich kommt unser Fisch aus der Dose.
Das ist ein Problem. Nicht für die großen Wale, aber für die kleinen. Die nämlich ertrinken zu tausenden in den Netzen, die unseren Appetit auf Fischbrötchen befriedigen. Und jetzt kommt ein echtes Problem: Was sage ich meinem Sohn: Wir essen keine Fischstäbchen mehr, weil daran die Wale sterben?
Die Ureinwohner in Alaska und Sibirien dürfen Wale jagen. Sonst ist ihre traditionelle Lebensweise bedroht. Aber was ist mit uns? Unsere traditionelle Lebensweise ist auch bedroht, wenn wir keine Fischstäbchen mehr kriegen. Reicht das bei der IWC für eine Ausnahmeregelung?
Jonas jedenfalls will zu den Guten gehören: „Ich mache auch bei Grienpies mit“, sagt er. „Um Wale zu retten.“ Das kann ich natürlich nur begrüßen. Mein Sohn will sich beim Umweltschutz engagieren und nicht nur wie sein Vater als Schreibtischtäter für die Natur kämpfen. Er wird seinen Norwegerpullover in gelbes Ölzeug zwängen und sich vor riesigen Fischtrawlern ins Meer werfen. Unser Kind, der Umwelt-Held. Damit sind wir einverstanden. Es gibt schlechtere Leitbilder für Bildung und Erziehung.
Nur die Unterweisung in biblischer Historie wird lückenhaft bleiben müssen. Wenn er die Geschichte von Jonas und dem Wal erfährt, ist es aus mit der Öko-Karriere.
Fragen zu Grienpies?kolumne@taz.de