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berliner szenenAls sei alles nur ein Kinderspiel

Der Junge sortiert auf einem Podest große Garnrollen und Bretter übereinander. Auf dieser wackligen Pyramide jongliert er mit Bällen und Keulen, bis die Konstruktion kippt und er von hoch oben auf die Bühne springt. Wir klatschen Beifall und meine Nerven beruhigen sich wieder.

An Berlins Schulen kann man nicht nur was über Akkusativobjekte, Photosynthese und Gewaltenteilung lernen. An der einzigen Artistenschule Deutschlands gehören zum Lehrplan auch Fertigkeiten am Drahtseil und Trapez, beim Hoch­heben und Werfen von allerlei obskuren Gerätschaften. Nach dem Schulabschluss gehen die jungen Absolventen auf Tournee und tanzen, breakdancen, springen, balancieren, was das Zeug hält. Man kann tatsächlich waagerecht in der Luft an einem Seil „stehen“ und sich mit nur einem Arm festhalten. Die jungen Menschen auf der Bühne präsentieren irre Kunststücke und durchtrainierte Körper. Kein Gramm Fett … Langbeinige Frauen in so’ner Art Glitzerbadeanzug wickeln sich in Tücher und Seile, verbiegen sich bis zur Schmerzgrenze. Und lächeln, als sei das alles nur Kinderspiel. Warum haben mich meine Eltern nicht auch dort in Pankow angemeldet? Stattdessen habe ich Training in Latein und Altgriechisch absolviert. Kurz vor der Pause wirbeln alle zehn Artisten über die Bühne, die Mädchen werden von den Jungs durch die Luft geworfen und wieder aufgefangen, nicht ohne hoch oben ein paar Saltos zu schießen. Ein blitzschnelles Wechselspiel. Mit den letzten Takten der Musik verschwinden sie, nur zwei bleiben auf der Bühne zurück. Der Mann dreht in der Luft noch’ne doppelte Schraube und landet dann ungebremst auf den Schultern eines Mädchens. Während der Vorhang sich schließt, grinst sie ein wenig triumphierend die begeisterten Zuschauer an.

Gabriele Frydrych

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