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berliner szenenHoch­romantische Pullover

Eigentlich trage ich nur vier, fünf Pullover im Wechsel. Aus reiner Bequemlichkeit. Denn in meinem Kleiderschrank gibt es noch mehr Pullis. Am Wochenende, als es regnete, habe ich sie durchgezählt. Es sind 31. Es ist eine richtige Kolonie. Wo kommen die denn alle her?

Ich dachte immer, ich habe einen reduzierten Kleiderschrank, doch das stimmt nicht. Ich nutze meinen Kleiderschrank nur sehr reduziert. Ich besitze Rollkragenpullis, Kapuzenpullis, Wollpullis und Strickpullis. Aber vor allem besitze ich Sweatshirts. Ich habe Sweatshirts mit dezenten Aufdrucken auf Höhe des Herzens und ich habe Sweatshirts mit aufmerksamkeitsfordernden brust- oder rückenfüllenden Aufdrucken. Ich habe sogar einen Pullover mit dem Logo der Humboldt-Uni.

Als ich die Pullover auf dem Bett nach Farben sortiere, stelle ich fest, dass übermäßig viele blau und grau sind. Ich habe blaue Augen, das ergibt Sinn, die Pullis greifen meine Augenfarbe auf. Aber Grau? Was habe ich mir dabei gedacht? Ich bin mir ein Rätsel.

Ich lege Pulli für Pulli zurück in den Kleiderschrank. Der Ansatz eines Regenbogens. So viele Pullis und so wenig Aufmerksamkeit, denke ich. „Mach für sie doch einen Instagram-Account“, sagt Johanna, als ich ihr davon erzähle. „Jeden Tag ein Foto auf dem du einen anderen Pullover trägst. Den ganzen Oktober lang.“ Ich sehe sie an. Sie scheint das ernst zu meinen. „Das interessiert doch niemanden“, sage ich. „Doch! Mich.“ „Reichweite: Ein Herz“, sage ich. „Ein Herz“, sagt Johanna. „Das ist hochromantisch.“ „Hm“, sage ich skeptisch. „Glaub mir. Vielleicht gehen deine Pullis sogar viral.“ „Mit einem Herzen?“ „The Power of Love“, sagt Johanna. „Also gut“, sage ich. Und lege für Johanna und den Oktober einen hochromantischen Pullover-Account an.

Daniel Klaus

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