berliner szenen: Seltsame Grabbeigaben
Während andere zum Ufer des Schlachtensees pilgern, suche ich auf dem Waldfriedhof das Grab meiner Eltern. Ich weiß nicht genau, wo es ist, weil ich so selten hingehe. Erst am Grab meiner böhmischen Oma und ihres letzten Lovers vorbei und dann links abbiegen, wo dieser steinerne Engel mit den erhobenen Händen droht. Aber da ist das Grab meiner Eltern nicht mehr. Mein Bruder teilt mir am Telefon die genaue Lage mit, ich finde den Gang und die Grabnummer trotzdem nicht. Ein Friedhofsgärtner macht sich mit mir auf die Suche, er hat auch kein Glück. Irgendjemand hat anscheinend die Nummern reformiert. Durch Zufall entdecke ich den Stein mit den Namen meiner Eltern. Alles ist mit Immergrün und Efeu zugewachsen, die Büsche ringsum aber sind gerodet. Kein Wunder, dass ich es nicht gefunden habe.
Mit etwas schlechtem Gewissen lege ich meiner Mutter einen Apfel aufs Grab und meinem Vater spendiere ich zu seinem heutigen Todestag einen ordentlichen Schluck Wodka. Die Sonne knallt und ich setze mich einen Moment auf eine Bank im Schatten. Da sehe ich an einer anderen verwilderten Stätte eine junge Frau, die mit einem Kinderschippchen neben dem Grabstein buddelt. Sie hat einen Schuhkarton dabei, nimmt etwas weiß Verpacktes daraus und deponiert es in dem Loch, das sie gerade hergestellt hat. Als sie Erde darauf schippt, sieht sie meinen interessierten Blick und erklärt verlegen: „Ich habe seit meiner Kindheit immer mehrere Wellensittiche. Und wenn mal einer stirbt, bringe ich ihn hierher, zu Henriette Schmitz. Das Grab ist seit Jahren verlassen, das stört doch niemanden, wenn da auch ein paar Vögel liegen.“
Ich stimme ihr zu. Frage mich aber, wie die Archäologen in 200 Jahren diese seltsamen Grabbeigaben deuten werden.
Gabriele Frydrych
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