berliner szenen: Aufwärmen auf dem Gehweg
Es ist sehr heiß. Die Temperaturen steigen auf 36 Grad und die Stadt stöhnt still. Die Vögel haben sich verkrochen, die Straßenbäume werfen ihre trockene Rinde ab und die Menschen, die mir entgegenkommen haben rote, glänzende Gesichter. Ein paar Häuser weiter treffe ich auf eine Nachbarin, mit der ich manchmal ein paar Sätze wechsele. Sie sieht erschöpft aus.
„So’n Wetter“, sagt sie. „Schlimm is das, man kippt fast um. Is nur gut zum Wäsche trocknen.“ Wir gehen ein Stück des Weges gemeinsam und ich sage: „Ich habe Wasser in meiner Tasche dabei, falls Sie etwas wollen.“ „Geht noch, danke, aber sehr vernünftich. Ich hab’nen Fächer mit. Klimaanlage der Armen, sacht mein Mann.“ Sie zeigt mir einen mit asiatischen Motiven bemalten Fächer, den sie aus ihrer Jackentasche holt. Sie fächelt erst sich demonstrativ Luft zu, dann mir. „Tut gut, ne?“ Ich nicke.
Als wir an den S-Bahnhof kommen, liegt mitten auf dem Gehweg eine Frau neben einem Bündel und zwei Plastiktüten. Ihre Haare sind grau und verschwitzt, sie hat den Daumen im Mund, liegt gekrümmt auf der Seite und scheint zu schlafen. Ich sehe meine Nachbarin an, sie sieht mich an. „Das geht doch nich“, sagt sie.
„Hallo? Geht es Ihnen gut?“, rufe ich. Die Frau reagiert nicht. Meine Nachbarin ist rigoroser, schüttelt die Frau an der Schulter und ruft laut: „Gute Frau, du kriegst hier’nen Hitzeschlach. Such dir’n Plätzchen im Schatten.“
Die Frau auf der Straße wacht auf und schimpft: „Fresse halten! Da will man sich mal aufwärmen und muss schon wieder abhauen.“ „Reg dich ab“, sagt meine Nachbarin, „Kann ja keiner ahnen, dass du so’ne Frostbeule bist.“ Die Frau brummt. Dann dreht sie sich auf den Rücken und streckt das Gesicht in die Sonne, als würde sie in einem Liegestuhl irgendwo am Strand liegen. Isobel Markus
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