berliner szenen: Ist das Bier kalt?
Mitternacht. Ich muss von der U- in die S-Bahn umsteigen. Am Alexanderplatz. Horror. Endlose Irrwege, Gänge, die ins Nirgendwo führen. Wie finden sich hier Touristen zurecht? Vermutlich lege ich gerade mein Soll von 10.000 Schritten zurück. Ich kürze ab und nehme einen Fahrstuhl. Pech gehabt. Ich lande auf dem Bahnsteig für Regionalzüge. Nee, nach Cottbus oder Fürstenwalde will ich jetzt gerade nicht. Also Treppe runter, andere Treppe rauf. Ich sehe sehnsüchtig meiner S-Bahn hinterher. Die nächste kommt in zwanzig Minuten. Vielleicht. Auf dem Display ist von unregelmäßigem Zugverkehr die Rede. Es zieht. Ich habe Durst. Finde einen freien Platz auf einer kalten Bank. Fummle wie alle anderen an meinem Smartphone rum. Gibt’s was Neues? Philosophiere darüber, warum nur Frauen ihre Whatsapp-Nachrichten mit grinsenden Emojis und zappelnden Häschen verzieren. Als ich endlich alles Überflüssige gelöscht habe, kommt die Bahn. Mit mir steigen ein paar Rollkoffer ein und ein Mann, der laute Flüche über die Umwelt ausstößt. Nach drei Stationen hat er sich beruhigt. Dafür bricht kurz nach dem Abfahrtssignal mit Getöse und Krawall eine Gruppe Jungmänner in den Wagen. Zusammen mit ihrer Musikanlage. Sie grölen mit und hoffen wohl auf Protest der anderen Fahrgäste. Ich überlege, auch was zu singen. „Satisfaction“ von den Stones? Bin aber zu müde, und meine Kehle ist trocken. Als ich aussteigen will, bammeln und turnen die sechs Jungmänner an den Haltestangen. Auf dem Boden zwischen ihnen eine volle Kiste Bier. „Ist das kalt?“, entfährt es mir. Ein Jüngling unterbricht sofort seine Turnübung. „Wollen Sie eins?“ Schon hat er eine Flasche geöffnet und hält sie mir hin. Ich steh auf dem Bahnsteig, winke zum Abschied und trinke gerührt das lauwarme Pilsator. Gabriele Frydrych
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