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berliner szenenVerletzte Taube auf dem Gleis

Ich betrete das Ringbahngleis am Bahnhof Westkreuz und sehe als Erstes diese Taube dort sitzen. Offenbar hat sie sich verletzt. Sie hockt mitten auf dem weißen Streifen im Gefahrenbereich neben der Bahnsteigkante und dreht hektisch den Kopf nach allen Seiten. Die nächste Bahn kommt in zwei Minuten, verrät mir die Anzeige, und sofort schießen mir Bilder von typischen Fahrgästen durch den Kopf, die in ihrer ewigen Eile aus Zugtüren stürmen und das arme Tier zertrampeln.

Mit mir stehen drei weitere Personen am Bahnsteig. Wir schauen abwechselnd auf das Tier und denken vermutlich alle dasselbe, als plötzlich eine zweite Taube neben der ersten landet. Sie schiebt ihr etwas in den Schnabel, liebkost sie auf rührende Weise und flattert davon, um das nächste Hilfsgut heranzuschaffen. So geht es hin und her. Meine Artgenossen und ich beobachten die tragische Szene und versuchen wortlos zu klären, wer von uns jetzt dieses Tier vor dem sicheren Tod bewahrt.

Die Minutenanzeige springt auf 1, ich werde nervös. Ich müsste doch und sollte ja! Eigentlich. Aber ich habe gleich diesen „wichtigen“ Termin, bei dem man definitiv nicht mit Taubenhänden aufkreuzen darf. Krankheiten haben sie ja auch. Hier in der Stadt. Sagt man zumindest. Und was, wenn sie mich hackt? Zoonose! Taubengrippe! Mein Bild neben Susanne Daubner in der „Tagesschau“ mit der Headline: „Berliner Volltrottel löst nächste Pandemie aus.“ Die Minutenzahl verschwindet und die Schienen beginnen zu zwitschern. Ich atme tief ein, krempele die Ärmel über die Hände, als der junge Kerl fünf Meter neben mir zur Tat schreitet. Er nimmt die Taube in die bloßen Hände, bringt sie in Sicherheit und wischt sich die Finger an der Hose ab. Der Zug fährt ein, die Leute fließen hektisch aus den Türen und der Betriebsablauf bleibt ungestört. Maik Gerecke

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