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berliner szenenSchrille Töne Spezial

Ich mochte sie auf Anhieb, meine Kollegin J. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, trage ich mich in dieselbe Dienstplanzeile ein und wir quatschen dann bis zum Schichtende auf der Galerie des Kinos, obwohl einer schon vorher nach Hause gehen könnte. Einmal kommt sie ins Foyer gerauscht und entschlingt dabei mit Verve ihren Tuchschal, was nicht dazu passt, dass sie blass und erschöpft aussieht. „Na, du alte Fairette!“, begrüßt sie mich, denn wenn man sich mag, aber nichts Bedeutsames voneinander weiß, helfen Insider; in unserem Fall Witzchen über den vulgären Klang der Produktnamen in unserem Fair-Trade-Süßigkeiten-Sortiment.

Dann bricht die Hölle los. Ein unerträglich lauter Ton schneidet das Vorherige ab, ich kann auf beängstigende Weise hören, dass er aus jedem Raum des mehrstöckigen Hintergebäudes gleichzeitig dringt. J. hat bereits das Telefon geschnappt. Im Kinosaal schaut eine Handvoll Rent­ne­r:in­nen weiter auf die Leinwand und mich Hereingestürmten an, als störte ich. „Sie müssen jetzt alle raus!“, blaffe ich. Minuten später ist die Feuerwehr da, alle Gäste sicher auf dem Hof – aber den Alarm hat noch niemand ausgeschaltet, der Ton frisst sich weiter durch das Gebäude und meine Vorderzähne. „ALTER!“

Aber J. ignoriert mich, steht hinter die Theke gebeugt und stempelt weiter wie manisch Bonuskarten voll. „Schau, ob du sie noch erwischst!“, befiehlt sie lächelnd, als wären wir in einem alten Film und sie spräche mit einem Kind, das man auf Botengänge fürs Kino schickt. Am untersten Treppenabsatz verstummt der Alarm, endlich, ich stoppe, und mein Mantel weht mir in die Kniekehlen. Amüsiert entdecke ich unter den Stempeln zwei Worte, die J. geistesgegenwärtig und in säuberlicher Schreibschrift hinzugefügt hat. Auf jeder Bonuskarte steht „Feueralarm Special“.

Jonathan Ruyters

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