berliner szenen: Faszination Berliner Fenster
GROSSBRAND – Aber ob er „ausgebrochen“ oder „unter Kontrolle“ ist, erfahre ich nicht, die Schlagzeile schneidet ein Regenbogenstreifen-Pixel ab. Mau, ich hatte mich gefreut, beim U-Bahn-Fahren Meldungen im „Berliner Fenster“ zu glotzen.
Dieser Brand im Grunewald …, frage ich mich, während ich weiter hoffnungsvoll zum Bildschirm starre, wo sich aber nichts tut. War das im selben Sommer wie die Aufregung um die Löwin, die angeblich in Kleinmachnow herumlief? Die Polizei, ich erinnere mich, hatte Haufen Feuerwerkskörper auf einem Sprengplatz gelagert, auf dem bestimmt ein lichtes Birkenwäldchen oder ähnlich trockene Grunewald-Vegetation wuchs. Wodurch es zur Entzündung gekommen war, wusste im Nachhinein niemand. Aber eigentlich ein schönes Bild: wie sich zuerst nur eine einzelne Rakete löst und zwischen die Birken zischt, die Explosion bläuliche Sterne in das Flirren der Sonne schleudert. Ich stelle mir vor, dass die Löwin sich gerade im Halbschatten des Wäldchens versteckt hatte und grollend den Kopf hebt.
Mein Gegenüber presst eine Bibel gegen seinen Bauch, den Rand zerfleddern Klebezettel. Nach einer Weile klappt er seine Heilige Schrift zu und sucht meinen Blick. Die Aussicht, ihm zu erklären, das Christentum interessiere mich eher aus wissenschaftlichen Gründen (oder noch schlimmer: aus „ästhetischen“), ist mir im vollen Waggon unangenehm – außerdem würde er beherzt einhaken, erleichtert, einen Zugangspunkt gefunden zu haben. In Berlin zu missionieren, kann nur beschissen sein. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er seine Lippen befeuchtet. Ich verdoppele die Anstrengungen, mein Gesicht irgendwie so aussehen zu lassen, als würde über seinem Kopf eine faszinierende Meldung nach der anderen auf dem kaputten Screen erscheinen. Jonathan Ruyters
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