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berliner szenenWie ein Zauberstab

Stiefmütterchen hat mein Nachbar im Hinterhof gepflanzt. Auf Spanisch heißen sie „Pensamientos“, also Gedanken, erzähle ich ihm, und er guckt mich skeptisch an. Aber nach ein paar Sekunden scheint er mir zu glauben und sich darüber zu amüsieren. „Stiefmütterchen“ finde ich wiederum lustig.

Diese Blumen, die er aus eigener Tasche bezahlt – ein neuer Versuch, den Hinterhof weniger hässlich zu machen –, sind klassischerweise gelb und lila. Sie sind klein, und es ist nicht schwer, in ­ihnen lächelnden Gesichter zu sehen. Was wirklich schwer ist: diesen Hinterhof aufzuhübschen. Er gibt sich jedes Jahr wieder Mühe, aber es funktioniert nur halbwegs.

Ein ähnliches Phänomen kann man am Boddinplatz beobachten. Da wurden Rosen gepflanzt, Beete angelegt, noch mehr versucht – und doch sieht der Platz trauriger aus als vorher. Weil nichts wächst und vieles zerstört wird. Weil der Sportplatz nur drei kaputte Geräte besitzt und am Gitter Klamotten zum Verschenken hängen, die nach dem Regen wie verlassene, nasse Hunde aussehen. Drumherum liegt Müll, die öffentlichen Toiletten erinnern mich an die Hütte eines Horrorfilms.

Doch einmal im Jahr blüht dort der Kirschbaum – und plötzlich sieht alles besser aus. Jedes Frühjahr, wenn der Nachbar wieder loslegt. Das Beste aber ist: Er blüht auch auf. Er gießt und grüßt alle und freut sich über jeden Kommentar zu „seinem“ Garten.

Angesteckt von seinem Enthusiasmus fange ich an, meinen Balkon aufzuräumen. Ich weiß dabei, dass nachts die Temperaturen sinken, und eigentlich müsste ich noch Kohlen aus dem Keller holen. Aber selbst wenn es nur für einen Moment hält – die Illusion vom Frühling ist unwiderstehlich. Sie ist wie ein Zauberstab, der alles schöner macht. Sogar das, was nicht mehr zu retten ist.

Luciana Ferrando

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