piwik no script img

berliner szenenAls wäre er ihr eigenes Gewächs

Die Luft ist raus. Seit beide Töchter ausgezogen sind, fühle ich mich wie ein ausgedienter Fußball, mit dem niemand mehr spielen mag. Ich liege am Spielfeldrand und blute innerlich vor mich hin. Na gut, das Bild hängt schief, aber egal. Ich leide. Darum ist dieser Text so wichtig. Ich verarbeite den luftleeren Raum in mir. Dabei sah am Anfang alles noch prima aus. Endlich hatten wir mehr Platz und sogar Zeit für uns. Vielleicht wäre auch alles anders gekommen, hätte nicht unbedingt der Neffe meiner Freundin bei uns einziehen sollen. Nach endlosen Mühen hat er ein sechsmonatiges, unbezahltes Verlagspraktikum erobert, leider aber nicht das Zimmerchen finden können, das der Entlohnung angemessen gewesen wäre. Die gute Nachricht ist, er fühlt sich pudelwohl bei uns, die schlechte Nachricht: Er würde höchst ungern wieder ausziehen, selbst wenn wir eine Bleibe für ihn fänden.

Mit der Präsenz des Neffen zerschlug sich auch die zweite Hoffnung. Meine Freundin umsorgt ihren Neffen, als wäre er ihr eigenes Gewächs. An einem Tag wünscht er sich eine feste Beziehung, sie berät ihn. An einem anderen Tag glaubt er, ohne einen neuen besten Freund nicht existieren zu können, sie berät ihn wieder. Die Gespräche dauern Stunden. Als ich mich beschwere, sagt sie. „Du weißt doch selbst, wie schwer es ist, in dieser Stadt voller Arschlöcher Anschluss zu finden. Wir sind verpflichtet, ihn zu unterstützen, so gut wir können.“ Was heißt hier wir? Ihr heroischer Blick macht mich stutzig. „Blutest du denn gar nicht innerlich?“, frage ich sie. Sie schaut mich verständnislos an und legt mir ihre Hand auf die Stirn: „Also Fieber hast du nicht …“ Ich weiß nicht, vielleicht hat sie recht, vielleicht sollte ich mal dem Neffen den Ball zuspielen und abwarten, was passiert. Vielleicht spielt er ihn zurück. Henning Brüns

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen