berliner szenen: Der größte Berlinale-Fan
Die ersten Störche wurden gesichtet. Zu ihnen gehört auch Onkel Dieter. Wie jedes Jahr im Februar nistet er sich ganz selbstverständlich bei uns ein. Klar, die Berlinale ruft. Meine Freundin zeigt mir die SMS. „Komme am 16., bleibe eine Woche.“ Keine Grüße. Nichts.
Wir sitzen in der Küche und beraten uns, das heißt, sie mustert meine Mimik und versucht, meine Gedanken zu lesen. „Ich kann immer noch absagen“, sagt sie schließlich, meint es aber nicht ernst. Das weiß ich aus Erfahrung. Nichts wünscht sie sich sehnlicher als den Besuch ihres Onkels zur Berlinale. Was bleibt mir also übrig.
„Er ist der größte Berlinale-Fan, den es gibt“, sagt sie erleichtert, „er kann uns bestimmt wieder tolle Tipps geben.“ Ich brauche aber keine Tipps, denke ich heimlich, ich schlage mich recht gut allein durch. Bei der Berlinale vor einem Jahr landeten wir auf seinen Rat hin in einem japanischen Film über einen Mann, der in einem Karton lebt. Der Film lief um Mitternacht herum. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Ich muss sofort eingeschlafen sein.
Meine Freundin erzählt noch heute begeistert von diesem famosen Filmereignis, das wir ihrem Onkel Dieter zu verdanken haben. Dabei war der Onkel gar nicht dabei. Der Onkel besucht keine Filmvorführungen mehr. Die vielen Menschen erdrückten ihn, meinte er irgendwann. Außerdem komme er kaum noch die Treppen in den dritten Stock hoch. Was er genieße und warum er kein Jahr auslasse, sei die anregende Stimmung, wenn wir nach der täglichen Berlinale-Reise bei einem Glas Wein unsere Erlebnisse mit ihm teilen. Nicht selten aber schläft er dabei ein und beginnt laut zu schnarchen. Das finde ich seltsam. Meine Freundin nicht. Sie ist empathischer als ich. Aber Dieter ist ja auch ihr Onkel.
Henning Brüns
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