berliner szenen: Er stellt Fragen, als wäre ich 40
Seit mehr als sechs Wochen bin ich schon in Lübeck bei meiner Schwester in einer Siedlung aus den 20er Jahren gleich bei den Sana-Kliniken. Und warte auf die nächsten Arzt- und Bestrahlungstermine. Die Tage sind einförmig.
Drei-, viermal gehe ich draußen rauchen. Besonders gut schmecken die Zigaretten nicht mehr. Ich leide und rede wenig. Das Haus lässt sich nicht so gut heizen. Für meine Schwester und ihren Mann ist es auch schwer, einen halben Pflegefall im Haus zu haben, der die meiste Zeit trübsinnig im Wohnzimmer sitzt.
Kontakt hab ich eigentlich nur noch zu zwei Menschen: meiner alten Freundin K., die jeden Tag knappe Mails schreibt und oft an Migräne leidet. Und D., der mich kontaktiert hatte, weil ich in einer Szene von Bestrahlungsterminen und der Notaufnahme berichtet hatte. Wir kennen uns schon lange. Ich weiß nicht so recht, was er von mir will.
Er stellt mir viele Fragen über das Schreiben und meine sogenannte Biografie. Ich antworte, auch wenn es sich komisch anfühlt. Das lenkt ein bisschen ab von meinen Beschwerden. Ich freue mich, dass ich noch schreiben kann. Und warte auf neue Mails von ihm.
In der ersten Mail hatte er gefragt, ob er mir jeden Tag eine Frage stellen dürfe; die letzte bestand aus 17 Fragen. Zum Beispiel, wie das Studium gewesen sei, ob ich als Jugendlicher eine Stammkneipe gehabt und wie viele Bücher ich hätte, ob ich schnell oder langsam schriebe. Oder mal so oder mal so. Wie die Dateien im Laptop geordnet seien, wie ich mit Tagesnotizen arbeite usw usf. Er fragte, als wäre ich 40 und hätte erst neulich ein Buch veröffentlicht.
Mir kam es absurd vor. Als Schriftsteller fühle ich mich schon lange nicht mehr, sondern vor allem als Schwerkranker. Gleichzeitig gab unser E-Mail-Wechsel den Tagen Struktur und manchmal entstand auch ein Gespräch. Vielleicht möchte er ja auch später einen Nachruf auf mich schreiben.Detlef Kuhlbrodt
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