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berliner szenenWenn die Stadt mich lieb hat

Marlene Dietrich, ich habe sie im Ohr an dunklen Abenden. „Jetzt gehe ich allein, durch eine große Stadt, /Und ich weiß nicht, ob sie mich lieb hat /Ich schaue in die Stuben durch Tür und Fensterglas, /Und ich warte und ich warte auf etwas.“

An diesem Abend hat die Stadt mich lieb. Mich und vielleicht siebzig andere Besucher eines Konzerts der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach im Kulturhaus Schwartzsche Villa in Steglitz. Das ist kostenlos, man muss aber rechtzeitig reservieren, das hat meine Freundin I. geschafft.

Jetzt sitzen wir im Treppenhaus, der Klang von Harfe, drei Streich- und drei Holzblasinstrumenten steigt im dämmrigen Licht zu uns die Galerie empor. Aber es gibt nicht nur die Goldbergvariationen, von Heribert Breuer für das Septett eingerichtet, denn dazwischen liest ein Dichter. Liest davon, wie Klang soziale Räume baut. Wie die Erinnerung an entscheidende Momente seiner Jugend mit der Erinnerung an Songs verbunden ist, die ihm eine Freundin auf Kassette mitgab, als er nach England zu einem Praktikum reiste. Die Stimmung im Treppenhaus wird immer intimer, man fühlt sich persönlich eingeladen.

Als wäre das nicht schon weihnachtlich genug, kommt noch eine Steigerung der Gefühle. Jetzt liest Christian Dittloff aus Briefen, mit denen Nick Cave auf Fragen seiner Fans geantwortet hat. Es geht um nichts weniger als den Sinn des Lebens und das Weiterbestehen in traurigen Zeiten. Kurz steigt mir das Wasser in die Augen. Da kommt wieder Bach. Wir beugen uns über das Treppengeländer und sehen die Hände der Harfenistin die Saiten zupfen.

Später sitzen die Mu­si­ke­r:in­nen und der Dichter bei einem Imbiss im Café. Sie werden diesen Abend noch einmal spielen. Weil so viele gerne kommen wollten.

Katrin Bettina Müller

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