berliner szenen: Stangentanz mit Anfassen
Das Mikrobiom ist ja gerade in aller Munde. Ich fahre M 10 und lese Zeitung. Ein Artikel weiß, wie wichtig es ist, dieses früh zu trainieren – auch und gerade mit Dreck –, damit es sich zum Immunbollwerk ausprägt. Ich sitze hinten, und wie ein bewegliches Wimmelbild tut sich eine Straßenbahnfuhre Berliner Lebens vor mir auf. Ein Mädchen wirbelt um die senkrechte Haltestange. Gekonnt, schnell, schwindelerregend. Mit Lolli. Aha, denk ich, daher also die ewigklebrige Klebrigkeit dieser Stangen.
Am Naturkundemuseum dann stolpert ein Junge mit seiner Mutter herein. Er mit Mini-Dino, sie mit Kaffee. Beeindruckt bleibt der Junge vor dem Mädchen stehen. Diese unterbricht ihren zentrifugalen Zentripetaltanz, lässt ihn mitmachen. Scheu umgreift er die Stange. Die Bahn zischt los, doch er bleibt standhaft, diese erste Hürde ist genommen. Ein Zweierreigen beginnt. Indes hat die Mutter einen Platz gefunden, bettet sorgsam ihren Mantel neben sich. Dann erst sieht sie wieder nach ihrem Jungen – und gellt in alarmiertem Französisch: Nöttuschpah! Also: Nicht anfassen! Der Kleine reagiert nicht. Und das ist auch gut so. Er gibt sich dem Derwischtanz nun ebenso inbrünstig hin wie seine neue Tramfreundin. No!, insistiert die Mutter, präzisiert: Sessall! Also: Das ist dreckig!
Auweia. Soll ich ihr meinen Artikel geben? Von Wert und Magie kindlicher Verständigung erzählen, die sie mit eignen Augen nicht sieht? Ich lass es mal. Just kippt ihr der Becher, Kaffee fließt. Bahn zu fahren, kann herausfordernd sein, nicht nur fürs Mikrobiom. Mit Feuchttüchern hantiert sie jetzt am Mantel. Die Kinder haben somit sturmfrei. Selig schnabuliert der Kleine den Lolli, den ihm das Mädchen hinstreckt, ihn beim vermeintlichen Vornamen nennend: Sessall. Und auch das ist gut so. Dann steig ich aus. Felix Primus
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