berliner szenen: Ein russischer Pulli
Am Sonntag schlenderte ich über einen Flohmarkt in Neukölln und blieb an einem bunten Strickpullover hängen. „Jetzt schon?“, fragte ich mich und blickte auf meine kurze Hose, die ich trug, weil es draußen sehr warm war. Ich war noch voll in Sommerstimmung und mental nicht bereit für kalte Tage, die einen Strickpullover nötig machten. Aber der Pulli war schön und sah zumindest aus der Ferne so aus, als würde er nicht kratzen. Ich bat also die Verkäuferin, mir den Pulli zu zeigen. Sie zog ihn vom Bügel und gab ihn mir. Ich befühlte den Pulli und konnte keinerlei Kratzen spüren. Um auf Nummer sicher zu gehen, zog ich das Etikett hervor. Ich blickte auf kyrillische Buchstaben. „Soll ich übersetzen?“, fragte die Frau und ich fragte mich, ob sie aus der Ukraine kommen würde. Nachdem die Verkäuferin mir die Zusammensetzung des Pullovers vorgelesen hatte, der ohne Wolle auskam und daher wohl nicht kratzte, kaufte ich ihn.
Anschließend fragte ich sie, woher sie denn komme. „Aus Russland“, sagte sie. Wie lange sie schon hier sei, fragte ich, und sie erzählte mir, dass sie vor drei Jahren zum Studieren hierhergekommen sei. Okay, dachte ich, das war ja dann schon vor dem russischen Angriffskrieg. Kurz überlegte ich, sie zu fragen, wie sie denn zum Krieg stehen würde, fragte stattdessen, was sie denn zurzeit machen würde. „Ich arbeite im Russischen Haus“, meinte sie. Und fügte mit hörbarem Stolz in der Stimme hinzu: „Als Kuratorin.“
Ich musste schlucken und betrachtete den gerade gekauften Pulli, der mir plötzlich gar nicht mehr so gut gefiel. Wer für den russischen Staat arbeitet, kann ihm ja wohl nicht ganz abgeneigt sein. Ich steckte den Pulli schnell ein und verabschiedete mich. Auf dem Nachhauseweg ärgerte ich mich, sie nicht noch mehr ausgefragt zu haben. Eva Müller-Foell
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