berliner szenen: Der Kapitän ist gegangen
Weil die Temperaturen steigen und die Gören im Waldorfkindergarten nebenan nonstop „Come As You Are“ grölen, als wär’s 1993, fliehen wir raus ins Grüne, wo es kühl ist und still. Im gräflichen Forst, dessen sanfte Hügel und Täler die Weichsel-Kaltzeit geformt hat, steht der Waldmeister in voller Pracht.
Der Stammsitz der märkischen Linie derer von Redern lag im Harz. Das Berliner Stadtpalais wich 1906 dem Bau des Adlon. 1826 erwarb Friedrich Wilhelm von Redern Gut Lanke samt Forsten und Seen. Zum Besitz gehörte auch der Große Werder im Liepnitzsee. Hier gab es bronze- und eisenzeitliche Besiedlung und später den Bauernhof der Familie Nikolaus, die auf den Zuruf „Holt über!“ die Seilzugfähre bediente. Die Fährmannsfrau hieß Frieda. Die Fähre ist blau und heißt heute noch so. Angeblich half Opa Nikolaus dem Grafen Redern und seinem Gaul einmal aus dem Sumpf heraus, dafür überließ ihm der Graf die Insel zur Bewirtschaftung.
1914 wurde der Redern’sche Besitz Eigentum der Stadt Berlin. 1981 übernahm der Lkw-Fahrer Dieter Heymann den Fährbetrieb für die Gemeinde Lanke. Honecker suchte hier nach einer sagenhaften Lagune mit nackten Mädchen und ließ sich das saubere Nass bis in die Waldsiedlung pumpen. Letzten Monat hat Heymann, den alle nur „den Kapitän“ nannten, mit fast 90 der große Fährmann geholt. Bis zuletzt saß er unterm Faltpavillon auf dem Steg und schaute auf den See. Ungezählte Male sind wir mit der Fähre übergesetzt. Manchmal haben wir uns eins der Ruderboote ausgeliehen und sind um die Insel gepaddelt. Einmal scheuchte uns ein aufziehendes Gewitter gleich wieder an Land. Draußen auf dem grünen See blickten wir zurück zur Kapitänsbude. Klein war da der Kapitän zu erkennen. In seinem Sessel auf dem Anleger. Sascha Josuweit
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