berliner szenen: Wie stille entfernte Verwandte
Ein Geräusch weckt mich auf. Es klingt wie prasselnder Regen. Aber die Nacht ist warm und trocken. Ich schaue aus dem Fenster in den Garten. Das Geräusch scheint von der mit wildem Wein bewachsenen Mauer zu kommen. Ich lausche, doch um was es sich handelt, kann ich nicht sagen.
Ich lege mich wieder hin und träume: Ich bin auf dem Pausenhof meiner Grundschule. Es gibt in den Boden eingelassene Pfähle in unterschiedlicher Höhe. Man kann prima von einem zum anderen hüpfen. Manchmal rutscht ein Schulkind ab und schlägt sich das Kinn auf. Dann starren alle neugierig auf das Blut. Die Pausenaufsicht scheucht sie auseinander. Manche Träume sind schön, andere verstörend. Kein Mensch weiß, wieso bestimmte Teile der Vergangenheit im Traum vorkommen, andere nicht. Tagsüber verhalten sich die Träume still wie ferne Verwandte.
Beim Fußballspiel blutet ein Spieler aus einer Kopfwunde. Das Trikot ist ganz besudelt. Auch das Public Viewing verändert sich. Eine Frau reserviert eine ganze Sitzreihe für sich und ihre Freundinnen. Während der ersten Halbzeit sehen sie kaum einmal aufs Spiel. Unterdessen kommen immer mehr Freundinnen und die Frau versucht, weitere Plätze zu organisieren. Sie gestikuliert geschäftig und ruft „hier“ und „da“ wie eine verrückt gewordene Platzanweiserin. Das Bier schmeckt trotzdem und Spanien schießt zwei Tore. Vor Jahren bin ich hier spät nachts mit dem Rad vorbeigefahren. Eine Party war im Gang und Leute tanzten auf dem Dach des alten Tankstellengebäudes. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie jemand vom Dach fiel. Ich bremste und lief hin. Die Leute standen mit Bierflaschen in der Hand im Halbkreis um eine am Boden liegende Frau. Sie lag auf der Seite und rührte sich nicht. Sie hielt etwas in der Hand. Jemand rief einen Krankenwagen.
Sascha Josuweit
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