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berliner szenenAls wären 30 Jahre ein Tag

Zuerst ist es nicht einfach, den richtigen Festsaal zu finden. Die Säle gleichen einander auf verwirrende Weise, und die Feiergesellschaft der silbernen Hochzeit ähnelt der unseres Jahrgangstreffens aufs Haar. Sogar die Hemden und Brillen sind identisch.

Einen Augenblick steht man unschlüssig auf der Schwelle am Eingang herum, dann tritt man ein und die Blicke begegnen einander, erst ungläubig, dann freudig gerührt.

Einer bringt es auf den Punkt: Als wären 30 Jahre ein Tag, als hätten wir eben noch zusammen im Deutschunterricht gesessen. Dazu allseitige Herzlichkeit. Vergessen alte Feindschaften und offene Rechnungen. Als hätten wir eine Grenze überschritten und jenseits davon wäre nur noch Wohlwollen.

So ähnlich ist es auch mit dem Erkennen. Unser Vermögen besteht darin, Nebensächliches auszublenden, Leibesfülle, Falten, Haarfarbe, Kleidung. Übrig bleiben der Blick, das Lächeln, der Gang und wie jemand steht und etwas hält. Das kennen wir, das hat sich uns tief eingeprägt, weil wir es tausend Mal gesehen haben. Verblüffend ist der rasche Zugriff, die sofortige Verfügbarkeit dieser Informationen trotz all der Jahre und trotz der vielen Sedimente, die sich darübergelegt haben.

Die Zeit benimmt sich sonderbar, schreibt Robert Macfarlane in seinem Buch über unterirdische Räume. „Im Unterland. Eine Entdeckungsreise in die Welt unter der Erde“ heißt es. Darin stellt der britische Autor die Frage, warum wir in die Tiefe steigen. Eine Antwort könnte lauten: um sie zu ermessen. Wir erheben die Gläser und machen vorsichtige Tanzschritte, als trauten wir der neuen Umgebung noch nicht.

Und dann ist es auch schon wieder vorüber, und wir gehen unserer Wege – zurück ans Licht. Sascha Josuweit

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