berliner szenen: Sturz auf der Treppe nach unten
Sie blutet aus der Nase. Ich reiche ihr ein Papiertaschentuch. Ihre Haare hat sie unter einem Tschador verborgen, ihre Augen blicken auf den Boden, als wäre es an ihr, beschämt zu sein. Sie zeigt keinen Schmerz, was mich wundert, denn sie ist auf der Treppe gestürzt. Die anderen Menschen gehen weiter, als sei nichts geschehen. Sie alle wollen oder besser gesagt müssen zur U-Bahn. Niemand steigt freiwillig am frühen Morgen in die vollen Untergrundzüge.
Ich war von zu Hause gekommen, noch müde von der kurzen Nacht. Auf der Treppe am Eingang des Hermannplatzes war viel Betrieb gewesen. Die Leute drängelten aneinander vorbei. Die Rolltreppe war defekt. Auch die Ankommenden schoben sich dicht gedrängt nach oben. Auf meinem Weg nach unten wurde ich angerempelt, verlor kurz mein Gleichgewicht. Dabei kam ich anscheinend ihren Beinen ins Gehege, denn ich spürte eine Berührung und sie stolperte mehrere Stufen, kam aber erst neben den Fahrkartenautomaten zu Fall.
Wie hatte sie es geschafft, so behende wieder aufzustehen? Dabei wäre ich dankbar gewesen, ihr wenigstens beim Aufstehen helfen zu dürfen. Doch sie nimmt nur mein Taschentuch. Wir wechseln kein Wort. Ich beantworte ihre Zurückhaltung mit einem schüchternen Nicken und blicke ihr hinterher. Sie verschwindet schnellen Schrittes auf der Rolltreppe hinunter zur U7. Unter dem bodenlangen schwarzen Tuch sehe ich rote Turnschuhe hervorblitzen. Wohin führt sie ihre Eile? Welche Abenteuer erwarten sie? Ich werde es nie erfahren. Meine U-Bahn kommt. Ich steige in die U8 und fahre in eine andere Richtung. Irritiert von dem Erlebnis, stehe ich in einer Gruppe von Menschen, die äußerlich nur eines miteinander verbindet, der abschirmende Ausdruck von Gleichmut in den Gesichtern. Henning Brüns
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