berliner szenen: KeineKreuzfahrtenmehr
Meinen zweiten Posaunenlehrer hatte ich in Amsterdam kennengelernt. Ein Musiker im Vondelpark, die sommerliche Dämmerung bespielend. Ich komme nach Berlin, hatte er mir gesagt, als er abends das Klimpergeld aus seiner am Boden ausgebreiteten Trainingsjacke las, mit diesem Fetzchen Stoff seine Posaune einwickelte, auf den Gepäckträger klemmte und nebenbei schon an einem schwarzen Harzpfennig knabberte. Lakritz, lachte er.
Als er ein paar Monate später nach Berlin zog, wurde er erst einmal mein Lehrer. Und gab Stadtführungen. Auch Jahre später noch traf ich ihn häufig. Ich sah ihn mit seinen Touristengruppen an der Havel, der Oberbaumbrücke, der Kulturbrauerei. Eine großstadtunübliche Routine der Zufallstreffen hatte sich etabliert zwischen uns – Treffen, die wir vielleicht vereinbart hatten, ohne davon zu wissen. Und fast wie ein großer, windiger Bruder war er für mich geworden. Doch urplötzlich sah ich ihn nicht mehr, er schien vom Stadtboden verschluckt. Er spiele jetzt auf Kreuzfahrten, erfuhr ich auf Umwegen.
Letzten Monat begegnete ich ihm wieder, schlafwandlerisch über Rot schlendernd. Keine Kreuzfahrten mehr!, war sein Gruß, und ich fragte ihn, ob er noch Unterricht gebe. Unser alter Probenraum in Kreuzberg war gentrifiziert worden – also ging’s stattdessen in ein kellerkaltes Tonstudio nach Neukölln. Wie es schon früher seine Angewohnheit gewesen war, überzog er die Stunde um fast eine weitere. Doch danach griff er nicht wie sonst nach dem Stückchen Lakritz in seiner Hosentasche, sondern nach einem nagelneuen Autoschlüssel. Das kannte ich nicht. Tschüss, sagte er, und sah zugleich auf seine Uhr. Auch neu. Mist, sagte er dann, jetzt muss ich mich beeilen. Was für Töne. Doch er beeilte sich nicht. Ahh … War sich doch treu geblieben. Felix Primus
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen