berliner szenen: Was sind Sie denn für einer?
Nach langer Zeit fahre ich wieder S-Bahn. Gewöhnlich bin ich mit dem Rad unterwegs, aber zu meinem Zahnarzt nach Zehlendorf ist es mir heute zu weit. Außerdem regnet es in Strömen. Das sollte als Ausrede genügen. Am Bahnhof Yorkstraße steige ich ein. Bei der letzten Fahrt mit der Stadtbahn erzählte mir jemand, dass manche Triebwagen wegen der riesig gewölbten Frontscheiben „Taucherbrille“ genannt werden. Andere „Fliegeralarm“ wegen des ohrenbetäubenden Heultons, wenn die Fahrt losgeht. Die Berliner Schnauze bringt die Dinge eben gern auf den Punkt.
Kaum, dass ich sitze und mein Buch aufgeschlagen habe, werde ich ebenfalls auf den Punkt gebracht. Eine Männerstimme fragt höflich, ob ich ihm ein Exemplar der neuen Ausgabe der Motz abnehmen möchte. Ich schüttele den Kopf, ohne aufzublicken. Ich möchte ungestört mein Buch lesen. Das Buch handelt von einem Menschen, der sich über Nacht in einen Käfer verwandelt hat. Vielleicht wegen der drohenden Zahnbehandlung spüre ich eine Art von Verwandtschaft zwischen dem Käfer und mir.
„Was sind Sie denn für einer?“, fragt der Mann mit der Motz. Ich beachte ihn nicht. Der Käfermensch ist mir wichtiger. „Ein Fatzke sind Sie!“, sagt der Mann. Er sagt es ohne Empörung in der Stimme. Er ist dicht an mich herangetreten und flüstert beinahe: „Wir Menschen müssen zusammenhalten. Was sind wir denn sonst? Doch nur solche Käferchen wie in Ihrem Büchlein da!“
Er zeigt mir ein Lächeln, als ich aufblicke. Der Mann hat einen langen schwarzen Regenmantel mit großer Kapuze an. Außer dem Lächeln ist wenig von ihm zu erkennen.
Ich fische ein Geldstück aus meinem Portemonnaie und will es ihm geben. „Nee, lassen Sie mal stecken“, sagt er, „Sie haben’s ja auch nicht leicht.“ Henning Brüns
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