berliner szenen: Der Pöbler und der Bettler
Der Mann im Jogging-Anzug, der an der Karl-Marx-Straße in die U7 steigt, ist viel zu dünn angezogen für diese Temperaturen. Er bittet um eine Spende oder etwas zu essen. Sofort beginnt ein Fahrgast, ihn zu beschimpfen. Er solle weitergehen, niemand habe Bock, sich das Gelaber anzuhören. Der Bettler wehrt sich leise, fragt, was das denn soll, er tue doch keinem etwas. Umso lauter die Reaktion: er solle sich verpissen und arbeiten gehen, dann könne er sich auch etwas kaufen, statt hier zu nerven. Einer Frau wird die Sache unbehaglich, sie sucht sich einen anderen Platz. Jetzt dreht der Pöbler auf und herrscht den armen Mann an. Er habe die Frau vertrieben, niemand wolle ihn hier sehen, er solle aussteigen und zur Hölle fahren.
Ein anderer Fahrgast greift ein. „Hey Großer, fahr mal runter, das muss doch nicht sein, was du da vom Stapel lässt.“ Kurz hält der Pöbler inne, aber nur, um sich in die nächste Tirade hineinzusteigern. Der Bettler steuert die Bank am anderen Ende des Waggons an und fängt an zu weinen und zu wimmern. Warum er sich das gefallen lassen muss, er lebt auf der Straße, er hat nichts, keinen Schlafplatz, nur Hunger, und dann so was. Kurz rafft er sich noch mal auf, um sich gegenüber dem Pöbler zu behaupten, aber seine Kraft reicht nicht, er steigt lieber aus. Der beschwichtigende Fahrgast ruft auch ihm noch ein „Großer“ hinterher: „Großer, nimm’s nicht so schwer.“
Bis zum nächsten Halt rechtfertigt sich der Streitwütige gegenüber einem jungen Mann, aber der will davon nichts hören. Er sei Araber, seine Religion verbiete ihm, sich gegenüber Schwachen so zu benehmen. Er hätte den Bettler doch einfach in Ruhe lassen können. Am Mehringdamm steigt der Pöbler aus. Beruhigt hat er sich immer noch nicht. Das Überraschende: er ist schwarz. Weniger überraschend: er ist betrunken. Claudia Ingenhoven
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