berliner szenen: Schnelle Berg- und Talbahn
Die Kinder meines Freundes wollen auf einen dieser lauten Weihnachtsmärkte mit Achterbahn, daher entschließen wir uns, nach Spandau zu fahren. Dort ist der Weihnachtsmarkt in zwei Hälften aufgeteilt, einen aufregenden und einen beschaulichen Teil. Wir laufen einmal über den Markt, um einen Überblick zu gewinnen. H. möchte Achterbahn fahren und E. springt aufgeregt vor einem Karussell auf und ab, das zu früheren Zeiten Melodie Star hieß. Eine schnelle kreisrunde Berg- und Talbahn, bei der die außen sitzende Person von den anderen zerquetscht zu werden droht – was die größere Herausforderung darstellt als die eigentliche Fahrt.
Vor der Kasse schlucken wir kurz, denn eine Karte kostet stolze 5 Euro. Wie wollen sich das Familien leisten, die kaum über die Runden kommen? Ich beschließe, mir lieber eine Tüte gebrannte Mandeln zu holen und zuzusehen.
Vor dem Kassenhäuschen steht eine fünfköpfige Familie. Schon vor der Achterbahn sind sie mir aufgefallen, denn sie wirken insgesamt nicht, als hätten sie Geld für Luxus übrig. Sie sind auffällig gelöst, lachen viel und der Vater kneift dem Kleinsten in die Wange. Er besteigt jetzt mit zwei Kindern einen Wagen, die Mutter und der Kleine wollen hinter ihnen einsteigen. Während die Frau zu einem der Wagen läuft, bemerke ich, dass sie ein Bein nachzieht. Später, als die Fahrt vorbei ist, alle an mir vorbeigehen, auf Arabisch durcheinander reden, fällt mir auf, dass der Vater eine Narbe im Gesicht trägt. Einem der Kinder fehlt eine Hand.
Noch lange denke ich an diese Familie. Vielleicht haben sie extra für den Jahrmarkt gespart. Für ein paar Stunden Unbeschwertheit in Sicherheit. Um auf den schnellsten Karussells den schlimmsten Erinnerungen zu entkommen. Ich hoffe, es ist ihnen gelungen.
Isobel Markus
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