berliner szenen: 13 geteilt durch Warten
Ich mag keine Wartezimmer. Und erst recht nicht, wenn ich lange warten muss. Insofern war meine Laune ziemlich mies, als ich mich ins Wartezimmer setzte. Doch aus dieser wehleidigen Ichfixierung wurde ich entrissen, als sich ein altes Paar neben mich setzte. Nicht ganz neben mich, denn direkt neben mir saß ein anderes altes Paar. Die Frau des Paars, das sich neben das Paar setzte, das direkt neben mir saß, sagte plötzlich: „Ich bin ganz artig.“ Einen Augenblick später: „Ich liebe dich“ zu ihrem Mann. Kurz war ich irritiert, doch als die Frau dem „Ich liebe dich“ noch ein „Ich küsse dich“ in einem nüchternen, etwas entrückt wirkenden Tonfall hinzufügte, dämmerte es mir: Die Frau könnte Demenz haben.
Ich habe schon viel über Demenz gelesen und gehört, aber immer aus der Distanz heraus, in der Theorie. Doch jetzt in diesem sterilen Wartezimmer war ich dieser Krankheit so nah wie noch nie. Und ich war berührt. Nicht nur von dem Mann, der seiner erkrankten Frau mit viel Respekt, Geduld und Liebe begegnete, sondern auch von der Frau selbst, die mit ihrem Bewusstsein da war und gleichzeitig nicht da war.
Regelmäßig schaute sie auf die große Wanduhr – 13.38 Uhr – und dividierte die Stunde durch die Minuten. „13 geteilt durch 38.“ Ergebnis offen. Dann sagte sie wieder: „Ich liebe dich.“ Diesmal zu dem Mann des alten Paars, das direkt neben mir saß.
Dann fragte sie ihren Mann: „Was hast du für eine Schuhgröße?“ – „43“, antwortete der. „Meine sind ganz klein“, meinte sie. Und er: „Du hast auch nur 37.“ Dann sie wieder: „13 geteilt durch 43.“ – „Ja, mein Schatz“, erwiderte ihr Mann. Und so ging das weiter, wiederholten sich Sätze, während ich wartete. Als ich schließlich aufgerufen wurde, blickte ich beim Vorbeigehen zu der Frau. Die Frau nahm meinen Blick wahr und sagte: „Ich liebe dich.“ Eva Müller-Foell
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