berliner szenen: Der Firnis der Zivilisation
Der Spaziergang hat heute Nacht Actionelemente. Schon in der Wohnung sind Explosionen zu hören. Um die Ecke in der Tellstraße sieht man bereits an der Einmündung in die Sonnenallee, was die Medien am nächsten Morgen „die zweite Nacht propalästinensischer Ausschreitungen in Neukölln“ nennen werden. Dunkle Gestalten laufen, gespenstisch beleuchtet von den matten Straßenlaternen und von Blaulicht, hin und her. In der Ferne kracht es. Dann sprintet eine Gruppe Riesen mit Sturmhaube und V-förmigen Oberkörpern auf der Flucht vor der Polizei auf mich zu. Sie sind topfit, durchtrainiert und rasend schnell. Das ist eine andere Art Leiber als die der angetrunken Autonomen, die sich einst beim 1. Mai ihr Mütchen beim Straßenkampf kühlen wollten.
Auf der Sonnenallee ist die Freude der Meute mit Händen zu greifen. Wildfremde klatschen sich mit High Fives ab, jubeln hupenden Autos mit Palästina-Fahnen zu. An der Ecke brennt eine Mülltonne. Neben mir prahlt jemand ins iPhone, wie er einem Polizisten „voll einen Kick gegeben hat, Bruder“.
Es ist, als wäre Gustav Le Bons „Psychologie der Massen“ Straßenszene geworden. Ein Männermob, bei dem das Stammhirn die Regie übernommen hat, stachelt sich gegenseitig zu immer größerer Erregung auf. Einige schattenboxen erwartungsfroh, während sie auf die Polizei warten, die sich an der nächsten Straßenecke in Robo-Cop-Kampfmontur aufbaut. Ich komme mir vor, wie in einem der „Purge“-Filme.
Ein Wasserwerfer biegt um die Ecke, und ich mache, dass ich weg komme. Vor einem Haus in der Tellstrasse liegen Autoreifen. Ich werfe sie über ein Tor in den Hof, damit sie niemand anzünden kann. Wenn jemand Feuer legen will, findet er aber noch genug Brennbares auf dem Bürgersteig. Der Firnis der Zivilisation ist dünn, sehr dünn. Tilman Baumgärtel
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