berliner szenen: Morgens am Sonntag, alles anders
Zauberhand hat über Nacht alle Lüftefensterchen im Treppenhaus aufgeklappt. Auf meinem Briefkasten unten, seh ich, lehnt ein gelber Designband. Gestern noch nicht. Das Aufziehen der schweren Haustür gibt ein Gemälde frei: leere Bierflasche auf grau patiniertem Sicherungskasten. Gestern noch nicht.
Junge Frau mit Turban nähert sich auf dem Gehweg, unsicherer Gang, stellt Pfeffi hinzu. Am Boden Pillenblister, zweier, dreier. Gestern noch nicht. Langbart aus Parterrewohnung hüstelt, hustet, räuspert sich, schwatzt, Ellbogen auf Fensterpolster, mit seinem Wellensittich. Skater mit Strohhut und Bananenschale passiert Straßenbaum … zack: ohne Bananenschale.
Die Alleelinden rauschen abwartend, skeptisch mit ihren früh schon welken Zwergenblättern: kommt Regen oder droht ein Hitzehieb? Amphitheatralische Akustik: Energisches Abschlagen eines Löffels am Schüsselrand aus unsichtbarer Küche irgendwo da oben, dort aus der Beletage zigfach exakt sechsmaliges Hämmern. Auf schattiger Bank seh ich eine Lesende, versunken, unbeeindruckt vom relativen Trubel; wie sie ihr Buch hält, kann ich den Titel nicht entziffern.
Kleines Mädchen mit glänzenden Zöpfen hopst auf den Balkon zur niedrigen Brüstung, ich sehe von unten ihr fliedernes Taftkleid mit rosa Tüllschürze. Ganz sicher barfuß, denk ich beim Vorüberschlendern. Am Herrfurthplatz: Gedicht über Gänseblümchen und Spiegelei auf Litfaßsäule. Gestern noch nicht. Mit dem Herrchen eines geselligen Kleinhunds komme ich ins Gespräch, sein Blick fängt und hypnotisiert mich, geht mir nach.
Und dann sehe ich noch ein E-rollerndes Pärchen, so selig verschmiegt und fast ineinandergeschmolzen auf dem Trittbrett, als hätte es verschlafen, dass die Nacht zu Ende ist. Felix Primus
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