piwik no script img

berliner szenenMit dem Schreier im Fahrstuhl

Erst kürzlich sprachen wir zu Hause davon, wie aggressiv es „da draußen“ so zugeht. Hupende Autofahrer, Radel-Rambos und randalierende Jugendliche im Park. Auch bei mir selber bemerke ich eine zunehmende, nun ja, Gereiztheit. Bei politischen Diskussionen zum Thema Krieg, AfD, Rassismus, Freibäder.

Oft frage ich mich, ob die vielen Störungen in der Berliner S-Bahn auch auf diese aggressive Grundstimmung zurückzuführen sind. Immer wieder gibt es Polizeieinsätze, Notarzteinsätze. Oder auch „Personen im Gleis“. Was machen die da eigentlich „im Gleis“? Bei 35 Grad Hitze oder strömendem Regen? Sind sie falsch abgebogen, wie Geisterfahrer auf der Autobahn?

Letzte Woche war es wieder so weit. Ich hatte es eilig, nahm mein Rad mit in die Bahn – und zack: Personen im Gleis. Am Nordbahnhof endete die Fahrt, alle stiegen aus. „Weiterfahrt vom Nachbarbahnsteig“. Also Rad in den Aufzug, hochfahren, mit anderem Aufzug wieder runter. Feststellen, dass am Nachbarbahnsteig natürlich kein Zug fuhr und man wieder zurückmusste.

„Scheiß-S-Bahn“, dröhnte es plötzlich über den Bahnsteig. Ein kleiner Mittsechziger mit Bauchansatz unter den Hosenträgern schrie seinen Zorn in die Welt. Ich war froh, dass in diesem Moment die Fahrstuhltür zuging. Doch da ging sie wieder auf, herein kam: der Schreier. Ich spürte sofort diffuse Angst und er brüllte auch schon wieder: „Scheiß-S-Bahn!“ Mein Angst war plötzlich weg. Und eine Wut kam hoch. „Reißen Sie sich mal zusammen“, hörte ich mich sagen. „Ich hab Ihnen nichts getan, Sie müssen hier nicht so brüllen. Sie sind ein erwachsener Mensch, benehmen Sie sich einfach mal entsprechend.“

Hatte ich das wirklich gerade gesagt? Der Mann war ähnlich verblüfft wie ich. Oben brüllte er wieder. Aber leiser als vorher.

Gaby Coldewey

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen