berliner szenen: Der eingezäunte Pseudoritter
Ich bummle durch die Jebensstraße Richtung Museum für Fotografie. Von oben weht das vertraute Geräusch der einfahrenden S-Bahn zu mir rüber. Gedankenverloren betrachte ich die Rückseite vom Bahnhof Zoo und sehe nur eingezäunte Baucontainer. Und hinter den Containern eine Art Ritter aus Stein. Mit eingesperrt auf dem temporären Bauplatz. Zwei Meter hoher Sockel mit dem Pseudoritter als Krönung oben drauf. Der stützt sich auf ein Riesenschild und ein Riesenschwert. Und hat doch tatsächlich diese typischen Siegfried-Wellen im Haar, denke ich. Genau so gesehen auf alten Bildchen, die Wagners Ring unter die Leute brachten. Heute lehnen an seinem Sockel drei Schilder: ein Stopp-, ein Einbahnstraßen- und ein Mister-Mint-Schild. Weit entfernte Verwandte des Schildes ein Stockwerk drüber. Hier also treffen sich die Relikte des untergegangenen Schild-Großbürgertums mit dem längst etablierten Schild-Kleinbürgertum, kommentiere ich in mich rein. Der Pseudoritter blickt stoisch über den Zustand vor seinem Sockel hinweg zum Haus gegenüber. Egal was jetzt drin ist. Zuerst gewöhnte er sich an den Anblick von rauchenden Männern in Uniform. Dann zierten Theaterplakate den Eingang, jetzt ist dort die Fassaden-PR des Fotomuseums. Im letzten Krieg fielen Bomben rein. Den Pseudoritter haben die Bomben irgendwie verschont. Inzwischen hat er sich so was von überlebt. Wenn aber jemand so richtig aus der Zeit gefallen ist und sich seine ganze Umgebung verändert hat, nur er nicht, dann berührt das irgendwie. Ich würde gerne mit dem Pseudoritter ins Gespräch kommen und ihm sagen: „Lass weiter prosaische Schilder an deinem Sockel Halt finden, schau auch mal rüber zu der Menschenschlange vor der Essenausgabe der Stadtmission. Und tu was, denn: Dastehen kann jeder.“ Katja Kollmann
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