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berliner szenenDie Radiologie von Kafka

Nach einer Operation begleite ich jemanden zur Nachuntersuchung ins Krankenhaus. Im Entlassungsbrief steht, er habe einen Termin um 8 Uhr. Als wir eintreffen, kann von einem Termin keine Rede sein. Im Wartebereich müssen wir eine Nummer ziehen. Laut Anzeige sind 16 Menschen vor uns. Nach anderthalb Stunden wird unsere Nummer aufgerufen. Die Dame im Anmeldebereich schickt uns in ein anderes Wartezimmer. Dort werden wir nach einer weiteren Stunde aufgerufen und in die Radiologie geschickt: „Ein Stockwerk runter, den Gang nach rechts, dann nach links, wieder nach rechts.“ Unten angekommen, begegnen wir bekannten Gesichtern. Anscheinend wurden beinahe alle von oben erst einmal zum Röntgen geschickt.

In der Radiologie heißt es erneut Nummern ziehen. Im Wartebereich werden zwei Betten mit Patienten geparkt. Nach einer Weile beschwert sich einer der beiden, dass er auf die Toilette müsse. Eine Schwester bringt eine Nachtpfanne und schiebt sein Bett in eine Ecke: „Sie werden jederzeit geholt.“ Eine halbe Stunde später wartet er immer noch. Die Schwester versichert: „Der Transport ist gebucht.“ Ein Pfleger kommt mit einer Dame im Rollstuhl aus dem Fahrstuhl, sieht auf sein Handy und erklärt: „So, Frau Lemke, es geht doch gleich wieder zurück in den dritten.“ Die Frau schüttelt den Kopf: „Bin ja eigentlich erleichtert, aber Sie tun mir echt leid mit dem Heckmeck hier.“ Der Pfleger lächelt: „Ich bin daran gewöhnt. Ist hier nicht nur heute so wie bei Kafka.“

Wie in einer Geschichte von Kafka fühle auch ich mich, als wir nach der Rückkehr aus der Radiologie in der Chirurgie erneut gebeten werden, Platz zu nehmen. Es ist mittlerweile 12 Uhr. Im Wartezimmer ist kein Stuhl mehr frei, und die ersten vier Menschen, die namentlich aufgerufen werden, sind nicht da. Eva-Lena Lörzer

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