berliner szenen: Picknick im Virchow-Klinikum
Zwei Wochen lang verbringe ich meine gesamte Freizeit auf den Fluren und im Park des Virchow-Klinikums, sehe Menschen ankommen und gehen und weiß mittlerweile sogar in beinahe allen Häusern, welche Toiletten defekt sind. Die Damentoilette im Erdgeschoss von Haus 4 ist es anscheinend bereits eine geraume Zeit. Auf dem Zettel an der Tür steht handschriftlich: seit „2–3–4–5“ Wochen! Die Ziffern 2 bis 4 sind durchgestrichen. Wie lange denn noch? Als ich einer Nachbarin erzähle, dass das Virchow mein temporäres neues Zuhause ist, muss sie lachen: „Ich war da nur ein einziges Mal. Das aber vergesse ich nie.“
Eine Freundin von ihr, erzählt sie, hatte über Ecken erfahren, dass ein Mann, mit dem sie über Jahre eine Affäre hatte, dort mit einem bösartigen Krebs lag, und wollte ihn noch einmal sehen, ehe es zu spät ist. Wie sie dies bewerkstelligen sollte, bereitete ihr Kopfzerbrechen: Zum einen hatte sie ein neugeborenes Baby, das sie weder mitnehmen noch abgeben wollte, zum anderen befürchtete sie, im Zimmer des Mannes auf seine Ehefrau zu treffen. Eine gültige Telefonnummer von ihm, über die sie sich ankündigen und einen günstigen Zeitpunkt hätte vereinbaren können, besaß sie nicht. Meine Nachbarin, die auch sonst für alle Lebenslagen Lösungen findet, bot an, mitzukommen und erst auf der Station nachzusehen, ob die Luft rein sei und, so dies der Fall wäre, mit dem Neugeborenen spazieren zu gehen. Sie gluckst ins Telefon: „Wir sind genau in dem Moment eingetroffen, in dem die Ehefrau gerade nach Hause gefahren war.“
Während meine Nachbarin das Baby durch den Park fuhr, erzählt sie, konnte ihre Freundin sich in Ruhe verabschieden: „Im Anschluss haben wir vor dem Haus ein Picknick gemacht. Um uns herum lauter Großfamilien. Eine hatte sogar einen Grill dabei.“ Eva-Lena Lörzer
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