berliner szenen: Literatur für die Kasse im Supermarkt
Verträumt stehe ich bei Rewe an der Kasse und denke über meine Einstellung zu Knoblauchgranulat nach, als meine Aufmerksamkeit abgelenkt wird. Ein junger Typ sitzt an der Kasse, die Kundin vor ihm ist offensichtlich eine Kollegin oder Freundin, sie kennen sich gut. „Na, wie geht’s dir sonst so? Was macht das Herz?“, fragt sie keck, während sie drei Gegenstände auf das Kassenband legt.
Der Typ druckst herum, ihm ist es offensichtlich unangenehm, nach Herzensangelegenheiten befragt zu werden. „Ach, weißt du, mein Herz, das ist ganz kalt. Wie bei diesem Märchen. Wie heißt das noch mal?“ Die Frau legt den Kopf schief: „Ah ja, ich weiß, was du meinst, aber ich komme grad nicht drauf.“ Kurzes Schweigen. „Na, ‚Das eiskalte Herz!‘“, höre ich mich rufen. Ups.
Die beiden schauen mich irritiert an, und die Frau sagt: „Ja, stimmt, so heißt es.“ Und der Typ: „Läuft das nicht immer an Weihnachten im Fernsehen?“ Ich nicke. „Ja, aber das Märchen an sich ist ziemlich gut, das kann man richtig schön kapitalismuskritisch lesen, wenn man möchte.“ Der Typ lacht, die Frau guckt etwas irritiert und sagt: „Soso, wie bei Ton Steine Scherben.“
Ich grinse, lege nickend meine Sachen auf das Band und denke an mein Literaturstudium zurück, in dem wir das Märchen mit Marx gelesen haben. Die Frau verabschiedet sich und zieht weiter. Der Typ an der Kasse findet mich offensichtlich sehr sympathisch und bietet mir eine viel günstigere Variante von meinem SodaStream-Zylinder an. „Na klar, wenn sie billiger ist, immer her damit“, sage ich, bezahle mit meiner Kreditkarte und laufe mit den Einkäufen zum Parkplatz. Wunderbar, denke ich noch, als ich in mein Auto steige. Ich sollte immer auf Kapitalismuskritik an der Supermarktkasse hinweisen. Da ist sie richtig aufgehoben und lohnt sich. Julia Tautz
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