berliner szenen: Vergissmein-nicht
Ein Gärtlein ist in andere Hände übergegangen. Drei Jahre hab ich's bewundert auf meinem Fußweg zur S-Bahn. Ein Herrgottsgärtlein, wie es im Buche steht: Kirsch- und Birnbaum dicht an der weinumrankten Laube, magischblaue Szillasternchen, Veilchen, Krokusse. Im kleinen Beet sommers Tomaten und Gurken, Bohnen. Ein paar Kräuter. Ein gutes Fleckchen Erde, eingerahmt von einer mächtigen Hecke duftender Sträucher; Hundsrose, Holunder, Schlehe. Sein Frühlingsglühen – alle Blühbemühungen des angrenzenden Gartens in den Schatten stellend. Denn dort krepeln nur blaudüngervergällte Hortensien inmitten ohnmachtsbleicher Kieselsteine und Baumarktzierrat, der seinerseits ratlos auf dem Baumstumpf einer Tränenkiefer harrt.
Ich hatte dieses Gärtchen liebgewonnen. Und mit ihm geliebäugelt. Immer fragen wollen, ob nicht Mithilfe gebraucht würde, denn es schien in Händen zu sein, die nicht mehr viel leisten konnten. Niemals sah ich jemanden werkeln dort. Gewerkelt aber wurde schon: mal hing eine Schürze am abblätternden Geländer der Laube, die am Mittag dort nicht gehangen hatte, mal lag eine Handvoll Feuerbohnen zum Trocknen in der Sonne.
So gingen die Jahreszeiten, und ich fragte niemanden.
Gewohnheiten und Wege ändern sich. Als ich vorige Woche nach langer Zeit wieder vorüberging, war alles anders. Ein A4-Wisch am Zaun, mit rotem Punkt, zeigte die Baufreigabe an. Ferner: tiefe Bissspuren eines Baggers im Boden, von ihm rigoros ausgespiene Pflanzen, Laubenbretter und Baumwurzeln auf braunem Hügel.
Sie haben dem Gärtlein das Genick gebrochen, sagte ich tonlos vor mich hin, als ich wenig später auf dem kalten, windigen Bahnsteig stand. In meiner Hand ein Bündelchen Vergissmeinnicht vom Aushub.
Felix Primus
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