berliner szenen: Gegenteil von anstrengend
Die kurzen Tage nehmen kein Ende. Ich sehne den Frühling herbei, auch wenn er noch in weiter Ferne liegt. Das gehört zum Berlinertum einfach dazu, genauso wie der Pfannkuchen und der kurz angebundene Busfahrer.
Zum Glück ist Annika zu Besuch in der Stadt. Ihr machen die kurzen Tage nichts aus. Sie ist Schwedin und Schlimmeres gewohnt. Gerade eben hat sie mir eine Nachricht geschickt, dass sie in einer Bar in der Dresdener auf mich wartet. Deswegen habe ich es eilig. Ich kann es nicht leiden, zu spät zu kommen. Meistens komme ich dann zu früh, was ich ebenfalls fürchterlich finde.
Annika kommt gerne zu spät, ohne sich etwas dabei zu denken. Aber das stört mich nicht, denn sie ist eine gebürtige Optimistin. Vielleicht ist sie darum so begeistert von Berlin. Genauer gesagt von Kreuzberg. Für Annika sind Kreuzberg und Berlin identisch. Die anderen Bezirke kennt sie kaum. Als ich einmal den Vorschlag machte, die Museumsinsel zu besuchen, schaute Annika mich an, als wollte ich ihr alten Fisch verkaufen. Als ich nachfragte, sagte sie, Stockholm sei wahnsinnig aufgeräumt. Das finde sie anstrengend. Berlin sei das Gegenteil von anstrengend. Die Leute werfen ihren Müll auf die Straße und niemanden stört es. Das finde sie irgendwie cool. Natürlich würde sie das nie machen, fügte sie rasch hinzu.
Als ich die Bar erreiche, ist sie geschlossen und von Annika nichts zu sehen. Na klar, denke ich, ich bin zu früh, die Bar macht erst um sechs auf. Ich gehe in Richtung Oranienplatz und sehe Annika auf mich zulaufen. Was ist los mit ihr? Sie wirkt verstört oder verärgert oder beides. So gut kenne ich sie auch wieder nicht. Jedenfalls redet sie erbost auf mich ein. Allerdings auf Schwedisch. Ich verstehe kein Wort. Erst wieder Annikas letzten Satz: „In Stockholm sagt da keiner was.“
Henning Brüns
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