berliner szenen: Alpakas und Impalas
Wenn Emma ihre kleine Wohnung in Charlottenburg verließ, ließ sie das Radio laufen, in Zimmerlautstärke. Ihre Telefonate, egal ob privat oder beruflich, legte sie auf die Wegstrecke zwischen Wohnungstür und Bushaltestelle, Bushalte und Schulpforte im Wedding, um sich auf dem Weg zur Arbeit und zurück sicher fühlen zu können. Sie war Vollwaise. Ihre Hände fühlten sich wie teure Handschuhe an. Ja, sie waren sanft, so wie Emma Zunz im Ganzen sanftmütig war, während meine Wünsche nicht nur ihr zuweilen aggressiv schienen. Sie war ein gebranntes Kind, ängstlich und besitzergreifend; sie verletzte, weil sie verletzt war, und demütigte, weil sie es nicht besser wusste.
Im vorvorletzten Herbst, bevor wir uns kannten, hatte sie sich vor eine Straßenbahn geworfen. Sie holte sich zum Glück nur ein paar Schrammen und ein Schleudertrauma. Danach machte sie eine Reha irgendwo im Brandenburgischen und den Schuldienst vorübergehend nur unregelmäßig. In den sozialen Medien postete sie Bildchen von Tieren, süßen und herben, kleinen und großen, Alpakas und Impalas und Hundesorten mit französischen Namen und in Bilder gerahmte Sprüche, die erklärten, warum Tiere die besseren Menschen waren.
Einmal saßen wir vor einem etwas billigen Café nahe dem Savignyplatz und unterhielten uns über die Möglichkeit von Ferien. Dann tirilierte ihr Handy, woraufhin sie eine Schachtel aus der Handtasche kramte und vor meinen Augen die Pille nahm. Dabei redete sie ohne Umschweife weiter, von Berufsunfähigkeit und Frührente, während ich sehr lachen musste.
So etwas hatte ich seit Jahrzehnten nicht gesehen. Das Leben ist unberechenbar, erklärte sie. Und der Tod immer nur eine Straßenbahn entfernt, ergänzte ich im Stillen. René Hamann
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