berliner szenen: Mutters letzte Winterreise
Wohlstandsfluchtbewegungen: Michael sonnt sich auf den Kapverden. Richard ist mit seiner Depression in Goa. Klaus reist nach Kolumbien. Franziska fliegt mit ihrem Mann wie jeden Winter nach Kapstadt. Knut hat’s wieder nach Thailand gezogen, Ingo nach Kambodscha, und der liebe Uwe hat eine Finca auf Gomera gebucht. Meine Freundin fährt zu ihrer Familie an die Nordsee. Und ich?
Havanna war im Gespräch, Tanger auch. Uwe bietet mir ein Zimmer in seiner Gomera-Finca an. Da mailt mir mein alter Freund Hans: „Fahr bitte zu Mama Weihnachten. Du weißt nie, ob man sich bei ihrem hohen Alter noch mal wiedersieht. Was willst du denn jetzt auf Gomera? Da hocken die gleichen Lebegreise wie im Gasthaus Lentz und halten ihre von Gicht gequälten Glieder in den Wind. Oder willst du auch so ein sonnengegerbter Lederstrumpf werden? Magst du Weihnachten nicht? Das Licht und die Stille?“
„Ich bin nicht so der Weihnachtsmann“, antworte ich, „das ist der Diepgen, den einst Dieter Kunzelmann so nannte.“ Meine Mutter ist 97 Jahre alt. Viele Jahre überwinterte sie im Hotel Playacapricho im andalusischen Roquetas de Mar. An einem Heiligabend sitzt sie nachmittags auf ihrem Balkönchen, genießt den Meerblick. Da huscht plötzlich etwas Dunkles vor ihren Augen vorbei. Rätselhaft. Von ihrem fünften Stock schaut sie hinunter in das Atrium. Riesige Kakteenbäume wachsen dort, mit gewaltigen Stacheln wie Seziermesser. Aufgespießt liegt da ein toter Mann bäuchlings auf dem größten Kaktus, wie in einer Winnetou-Filmszene. Fassungslos hält meine Mutter das Drama mit ihrer Pocketkamera fest. Ein untergetauchter Kinderschänder, erfährt sie in den Abendnachrichten. Es war ihre letzte Winterreise in den Süden. Heiligabend nahm ich den Zug zu ihr nach Münster. Guido Schirmeyer
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