berliner szenen: Verführung zum Lesen
Jetzt zahlt er ihr schon für den Sex. Aber sie will immer mehr Geld. Und liest die ganze Zeit Comics dabei.“ Der Teenager hat die Literatur entdeckt. Was zehn Jahre Schule nicht geschafft haben, nämlich Freude am Lesen zu wecken, bewirkt jetzt eine nette junge Frau namens K., die hier neuerdings ein und ausgeht und sich vor allem für russische Literatur interessiert. So kam mein 16-Jähriger in Kontakt mit Vladimir Nabokovs „Lolita“, dem Roman über den pädophilen Literaturwissenschaftler Humbert Humbert und die zu Beginn des Romans 12-jährige Dolores, die er Lolita nennt. Täglich erfahre ich neue, schockierende Details aus diesem Buch, das ich vor mehr als dreißig Jahren gelesen habe und das mich damals nicht sonderlich beeindruckt hat.
Ihn schon. „Krass, dass das so ein bekannter Roman ist. Der ist doch total pervers“, fasst mein Teenager sein Leseerlebnis knapp zusammen.
Vielleicht sollten Schulen generell mal den Kanon anpassen. Was hier im Laufe der letzten zehn Schuljahre gelesen werden musste, summiert sich auf etwa 6–8 Bücher, darunter „Emil und die Detektive“ von Erich Kästner und „Auerhaus“ von Bov Bjerg. Von den Klassikern meiner Schulzeit wurde am Gymnasium meines Sohnes bislang lediglich die „Schachnovelle“ von Stefan Zweig durchgenommen. Brecht, Kafka, Lessing, Kleist, Goethe, Fontane, Hauptmann, Annette von Droste-Hülshoff, Christa Wolf, Borchert, Frisch und Grass: „Nie gehört. Wer soll das sein?“ Ich bin jedes Mal wieder ein bisschen geplättet von so viel Unkenntnis.
K. hingegen ist literarisch recht bewandert. Sie hat dem 16-Jährigen einen Adventskalender gestaltet. Heute fand ich den „Fänger im Roggen“ auf der Flurgarderobe. „Das ist mein nächstes Buch“, sagt mein Sohn. „War heute in meinem Adventskalender.“ Gaby Coldewey
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