berliner szenen: Der Nachbar zieht den Hut
Seit drei Tagen steht eine Plastiktüte voller Pfandflaschen vor seiner Wohnungstür und ich mache mir Sorgen. Ob ich bei meinem Nachbarn klingeln soll? Ob bei ihm alles okay ist?
Als ich ihn das letzte Mal auf der Straße traf, war alles wie sonst. Zur Begrüßung machte er ein paar Schritte zurück, verbeugte sich und nahm seinen Hut ab. Auch wenn er keinen Hut auf hat, macht er diese Geste auf so eine präzise Art und Weise, dass ich im Nachhinein nie sicher bin, ob er den echten oder den imaginären Hut dabei trug.
Dann streckt er seinen Ellbogen zu mir für einen Ellbogencheck. Seine Lippen bewegen sich, als ob er etwas sagen möchte, er sagt aber nichts und wir gehen in unseren eigenen Routinen weiter.
Im Sommer fing der Nachbar an, einen Garten im Hinterhof zu pflegen. Jedes Mal, wenn ich ihn dabei traf, zeigte er begeistert mit der Schaufel auf die neuen grünen Exemplare und ich lobte ihn dafür. Doch auch dort ist er nicht mehr zu finden. Um die Pflanzen hat sich lange niemand mehr gekümmert.
Es ist nicht so, dass wir viel miteinander zu tun hätten, aber wir freuen uns jedes Mal, wenn wir uns zufällig über den Weg laufen. Wir haben zum Beispiel schon mal auf einer Kiezdemo mit der Polizei geschimpft und einmal zusammen gelacht, als bei uns im Haus ein Hipster-Accessoire-Laden plötzlich aufmachte und einen schick dekorierten Tisch vor die Eingangstür stellte.
Mein Nachbar setzte sich direkt dahin mit einem Bierchen in der Hand und winkte allen Passanten hinterher, was die Ladenbesitzerin offensichtlich für keine gute Werbung hielt.
Als ich am vierten Tag aus der Wohnung gehe, ist die Pfandtasche endlich weg. Doch richtig erleichtert bin ich erst, als wir uns auf dem Boddinplatz begegnen und er mich wie immer begrüßt.
Luciana Ferrando
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen