berliner szenen: Wie geht Zug, was ist Uelzen?
Im RE1 nach Magdeburg. Da war noch 9-Euro-Ticket. Die Klimaanlage ist ausgefallen, es ist heiß, es ist voll. Die frisch Zugestiegenen sind jetzt schon sauer, die anderen sowieso. Mit mir am Vierertisch sitzen ein Schülerpärchen aus Neukölln – er im Gangsta-Look, sie mit zentimeterlangen Acrylnägeln – und ein Karohemdträger Mitte 50, Typ „Lebt noch bei seiner Mutter“. Der Junge und das Mädchen fahren offensichtlich zum ersten Mal Zug, sie wollen quer durch Deutschland, zu einer Party, zu der Party. Aber wie geht das? Wie geht Zug? Verzweifelt starren sie auf ihr Ticket.
Das Karohemd ist eigentlich sauer, weil seine Mutter woanders sitzt und die Brote hat. Aber plötzlich scheint er milde gestimmt: „Kann ich euch helfen?“
„Ja. Wir wollen nach Oldenburg, aber wie geht das?“
„Zeigt mal her!“ Das Karohemd studiert intensiv den Reiseplan. „Ihr müsst zweimal umsteigen. Um acht seid ihr da.“ Das Mädchen schaut ihn mit großen Augen an, aufwallende Panik in der Stimme:
„Aber Uelzen! Hier steht Uelzen! Was ist Uelzen?“
„Na ja, das ist eine Stadt, da müsst ihr umsteigen.“
„Was, wir müssen aus diesem Zug hier raus?“
„Ja.“
Das Mädchen ist beunruhigt. „Aber das ist doch gefährlich! Aussteigen. Wir waren da noch nie.“
„Wo, in Uelzen?“
„Überhaupt irgendwo. Nicht in Berlin. Eigentlich gehen wir möglichst nicht aus Neukölln raus.“
Das Karohemd nickt. „Ja, da geb ich euch recht. Gefährlich ist es überall.“ Und sie sind sich einig, dass Uelzen mindestens so gefährlich ist wie die Hasenheide nachts um drei.
Das Mädchen schaut erst ihren Freund an, der nervös mit seiner schweren Goldkette spielt, dann aus dem Fenster. Charlottenburg zieht vorbei, und sie seufzt: „Hauptstadt ist eben doch am besten!“ Malin Schwerdtfeger
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