berliner szenen: Mus kochen und Laub harken
Der Herbst hat früh begonnen. Saß man in den letzten Jahren noch bis Ende Oktober spät abends auf dem Balkon, läuft man jetzt durch den kalten Regen nach Hause und freut sich, wenn es drinnen wärmer ist als draußen. Denn wir heizen nicht. Also, jedenfalls jetzt nicht. „Nicht vor Weihnachten“, sagt mein Mann, abends in eine Decke gewickelt auf dem Sofa. Ich habe dicke Pullover rausgekramt und starre missmutig in den kalten Niesel und auf die Kastanie, die schon seit August ihr Laub verliert. „Stressbedingt“, habe ich gelesen. Es war ihr zu heiß und zu trocken. Seitdem harken wir einmal pro Woche große Mengen Laub zusammen.
Jetzt ist es zu kalt. Mir zumindest, der Kastanie eher nicht. Bis Weihnachten sind es noch drei Monate. Eine Nachricht im Haus-Chat: „Gehen eure Heizungen auch nicht an? Es wird ja schon ziemlich frisch“, schreibt jemand aus dem Dachgeschoss. Fast alle beteiligen sich an der Diskussion. „Die sollten mal Laub harken, dann würde ihnen auch warm“, knurrt mein Mann aus seiner Sofa-Ecke. Aus dem Chat erfahren wir, welche Nachbarn Schimmel an den Wänden und undichte Balkontüren haben. Und deshalb heizen „müssen“. Einer schreibt, er wolle sich „jetzt noch nicht unglücklich machen“, indem er über die hohen Nachzahlungen spekuliere. Am nächsten Tag wird die Heizung repariert.
Ich wundere mich. Ständig wird über die steigenden Lebenshaltungskosten geklagt. Aber dann merkt man an den warmen Heizungsrohren, die durch unser Schlafzimmer verlaufen, dass alle bereits im September ihre Wohnungen heizen. Und liest, dass sie darüber auch lieber gar nicht nachdenken mögen. Wir heizen nicht. Dafür kocht mein Mann jetzt dauernd Apfelmus aus dem Fallobst im Garten. Es wird lustig bis Weihnachten. In den kalten Räumen, mit einer Schüssel Apfelmus in der Hand.
Gaby Coldewey
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