berliner szenen: Die Mutter von Neukölln
Es ist Sonntagabend und ich stehe nach dem Konzert einer meiner Berliner Lieblingsbands mit meiner Tochter an der Herrmannstraße. Wir warten auf meinen Sohn, der uns mit einem geliehenen Auto abholen will. „Seid ihr verrückt geworden?“, rief ich am Morgen, als sie mir erzählten, was sie heute mit mir vorhaben. Die Zwei nickten: „Ausgehservice zum Muttertag.“
Jetzt draußen vor der Tür bin ich ein bisschen high von der Musik, den vielen Menschen und dem Tanzen. „Das war mein erstes Konzert seit Corona“, sage ich. „Ich hatte ein bisschen vergessen, wie toll das ist.“
Meine Tochter nickt müde. Wir beobachten die Leute, die aus der Halle herauskommen und davor stehen bleiben. Sie lachen, rauchen und trinken Bier aus dem Dönerladen. Nicht weit von uns an der Ecke liegt ein Obdachloser und schläft auf einer Decke. Ich sehe über die Straße auf die Leuchtreklame der Läden: „Vielleicht finde ich ja noch einen ausgefallenen Leuchtbuchstaben für meine Fotoserie.“ Meine Tochter deutet mit dem Kinn nach vorn: „Guck, da ist ein ausgefallener Leuchtbuchstabe.“ Ich folge ihrem Blick. Eine alte Frau kämpft sich mit einem Einkaufstrolley durch die feiernden Menschen. Sie ist sehr klein und zierlich, trägt einen Mantel und eine Mütze mit funkelnden, silbernen Glitzerstreifen über einem weißen Knoten. Es sieht so niedlich aus, dass wir uns beide angucken und grinsen.
An der Ecke bleibt sie vor dem Obdachlosen stehen, öffnet ihren Trolley und holt eine bis oben gefüllte Brötchentüte heraus. „Mann“, ruft sie laut und etwas grob, „wach auf, ich hab was zu essen für dich.“ Sie legt ihm die Tüte auf die Decke, klappt ihren Trolley wieder zu und während er sich aufrichtet und in die Tüte guckt, zieht sie schon weiter. „Das war auf jeden Fall die Mutter der Herrmannstraße“, murmelt meine Tochter. Isobel Markus
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