berliner szenen: Grauschleier über der Stadt
Ich schließe die Augen und bilde mir ein, dass ich woanders bin. Irgendwo, wo es nichts Außergewöhnliches ist, dass die Sonne scheint und der Himmel blau ist. Wenn die Sonne jeden Tag scheint, ist das kein Grund, um das Haus zu verlassen. Aber ich bin in Berlin und versuche, mich davon zu überzeugen, dass es nicht so schlimm ist, bei Grauschleier drinnen zu bleiben. „Ich weiß schon, wie sich die klare kalte Luft auf der Haut und in den Lungen anfühlt. Ich weiß, wie es riecht und wie die Stadt ganz anders aussieht, und brauche keine Bestätigung darüber“, sage ich mir zum Beispiel. Oder ich höre „Who loves the Sun“ von The Velvet Underground, bis der Song zum Ohrwurm wird.
Wenn ich nur erkältet wäre, könnte ich mich dick einmummeln und spazieren gehen, das wäre sogar gesund. Doch während einer Coronaquarantäne darf ich das natürlich nicht machen. Dann stelle ich es mir eben vor, wie ich auf dem Weg zur Hasenheide den Späti-Verkäufer, der früher Boxtrainer war, mit erhobener Faust begrüße. Im Park sehe ich am Teich die Leute, die jeden Tag die Eichhörnchen und die Vögeln füttern. Diese fliegen herum und alle lachen und bewegen sich grazil wie Figuren in einem Disney-Film. Ich sehe die Tänzer*innen, die mit Kopfhörer, alleine, aber zusammen, auf der Wiese tanzen, und die Dealer, die sich unter den Bäumen bei jedem Wetter unterhalten. Ich gehe durch das volle Tempelhofer Feld und auf dem Wochenmarkt im Schillerkiez trinke ich einen Cappuccino und esse ein Croissant – in der Sonne!
Wenn nur ein paar Strahlen in meine Wohnung reinfänden, wäre ich schon glücklich. Doch das passiert bei mir nur im Sommer. Ich habe keine andere Option, als mich für diejenigen zu freuen, die draußen sind. Oder mich damit zu trösten, dass es morgen ohnehin wieder grau sein wird.
Luciana Ferrando
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