berliner szenen: Die Frau, die schreit, bin ich
Es ist schon dunkel, kühle Feuchte liegt in der Luft, zur abendlichen Rushhour ballen sich die Fahrräder vor einer roten Ampel. Als es grün wird, setzt der Pulk sich zügig in Bewegung; alle wollen schnell nach Hause, aber nicht schnell genug für einen Kampfradler, der von rechts im Halbkreis an uns anderen vorbeiflitzt, sein Rad in rasanter Fahrt vom hohen Bordstein auf die Straße springen lässt und bei der Landung auch noch provokant das Vorderrad nach oben zieht.
Doch er hat sein Können dramatisch überschätzt, denn bei dem Manöver verliert er die Kontrolle über sein Fahrgerät, das unter ihm wegrutscht und ihn selbst über den Radstreifen hinaus auf die Fahrbahn schleudert. Genau in diesem Moment kommt von hinten ein BVG-Bus, und ich höre eine Frau in höchsten Tönen „Scheiße!“ kreischen. Das bin ich selbst.
Die Busfahrerin oder der -fahrer beweist bemerkenswerte Reaktionsschnelligkeit und weicht spontan nach links auf die Innenspur aus, wo glücklicherweise gerade kein anderes Fahrzeug kommt. Nichts Schlimmes ist passiert; und der Kampfradler, der so unverschämtes Glück gehabt hat, klaubt sich und sein Fahrrad hurtig auf und macht eine beschwichtigende Handbewegung in meine Richtung, während ich ihn anschreie: „Mann, Junge, was soll der Sch[…]!“ Es handelt sich um einen hippen Bartträger in den Zwanzigern, und noch während ich brülle, merke ich, dass ich klinge, als wäre ich seine Mutter oder vielleicht seine leicht erregbare Grundschullehrerin. Dann ist es auch schon vorbei. Als sei nichts gewesen, hat der rasende Hipster sich in den Sattel geschwungen und ist Sekunden später nicht mehr zu sehen. Widerwillig beneide ich ihn um seine Coolness. Mich dagegen hat diese kurze Szene bestimmt zwei Monate meiner Lebenserwartung gekostet. Katharina Granzin
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