berliner szenen: Eloquenz unter der Trauerweide
Es ist nachts, und wir sitzen tatsächlich unter einer Trauerweide mitten in Berlin-Lichtenberg. Einen See gibt es nicht, obwohl ich dachte, dass Weiden nur wachsen, wenn sie ihre dünnen Äste nachts in Wasser tauchen können, über dem der Vollmond steht.
L. ist ein bisschen angetrunken und versucht mit Worten nach der Weide und überhaupt dem Sinn des Lebens zu greifen. Dabei gestikuliert er heftig, obwohl er wenig sagt, und schaut seine neue Freundin an. L.s Freundin spricht nur Englisch und L. spricht Englisch eher mäßig. Normalerweise ist seine Sprache bildhaft und immer ein wenig entrückt. Ein Träumer eben, der sich nicht selten in lebhaften Beschreibungen von Sinneswahrnehmungen oder Gelesenem ergeht. „I’m looking for eloquency“, sagt er beinahe verzweifelt und schaut uns an, als hätten wir ihm seine Sätze genommen.
Jemand bietet ihm Wörter an, doch L. nimmt sich keins. „Ich brauche nützliche Begriffe“, erklärt er, „wie ‚provide‘, ‚suggestive‘ oder ‚perpetuate‘.“ Uns fallen keine nützlichen Wörter ein, so friedlich sitzen wir im Schutz der alten Weide. Außerdem scheinen er und seine Freundin sich bislang immer gut unterhalten zu haben. Aber er hat recht, die Szenerie, die im Wind wehenden Äste dieses mystischen Baums verlangen eigentlich nach lyrischem Vokabular. „You need more words to exaggerate“, sage ich schließlich. „Because that’s what you always do.“ L. springt auf. „Solche Wörter meine ich“, ruft er und sagt es dreimal hintereinander. Es klingt beim vierten Mal immer noch verdreht. „‚Exaggerate‘ ist gut“, sagt er schließlich und setzt sich wieder. Nach der Übersetzung fragt er erst gar nicht.
Julia Hubernagel
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