berliner szenen: Schnipsel eines Abends
Zum ersten Mal seit etwa einem Jahr wieder auf einer Vernissage zu sein fühlt sich fast irreal an. Wie ein Rausch. In einer kleinen Galerie in Neukölln. Davor etwa zwanzig Menschen, die in Zweiergruppen in die Ausstellung gehen dürfen. Corona und Kunst. Eine Kombi, an die man sich erst noch gewöhnen muss.
Corona und Kunst und Polizei, die plötzlich vor der Galerie steht und möchte, dass sich die gebildeten Grüppchen auflösen. Ihr Vorschlag: sich alle in einer Reihe aufstellen, damit nicht der Gehweg blockiert wird. Kunst und Polizei, das passt einfach nicht. Andererseits: Zwanzig Leute, die vor einer Galerie eine lange Reihe bilden, hätte ja auch schon fast etwas von einer Kunstaktion.
Zum Glück geht aber die Polizei weiter und ich darf in die Ausstellung. Eine nackte Puppe aus glänzendem Stoff mit gelockter Perücke, die sich auf dem Boden krümmt. Barbusige Frauen, gemalt auf Papier, die nichts Sexuelles ausstrahlen, sondern Emanzipation. An der Wand hängt ein Teppich mit bunten Zeichnungen und Notizen. Eine heißt: „together forever alone“. Eine Anspielung auf Corona?, frage ich mich, berühre dabei meine FFP2-Maske, hoffe, dass sie in naher Zukunft der Vergangenheit angehört. In einem Museum landet, verstaubt, für immer.
Als ich die Galerie verlasse, sehe ich, dass sich mein Fahrradkorb zu einem Mülleimer verwandelt hat. Zerknüllte Papierschnipsel noch und nöcher. Ich weiß nicht mehr genau, warum ich schließlich den Müll mit nach Hause nehme und die einzelnen Schnipsel entziffere. Wie sich herausstellt, gehört der ganze Papiermüll einem Mann aus Stendal, der offene Rechnungen, Angebote zu Immobilien für ein Ladengeschäft und Wahlwerbung von den Grünen aus Sachsen-Anhalt bekommen hat. Ich schmeiße die Schnipsel weg und gehe ins Bett. Eva Müller-Foell
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