berliner szenen: Das Gleis wird zur Bühne
Feierabend. „Er möchte nicht mehr arbeiten“, lautet die Ansage, eine Viertelstunde nachdem wir stehengeblieben sind. Weil ich Musik höre, denke ich zuerst, dass der Lokführer damit gemeint ist, und frage meinen Sitznachbarn. Er lacht. „Der Zug möchtet nicht mehr arbeiten“. Die Fahrgäst*innen fangen an, sich im Gleis umzugucken, die Schaffner*innen werden ständig befragt. „Kaputt, kaputt“, hört man immer wieder, hier und da. „Und dann?“ Niemand weiß es genau. Es wird dunkel. Wir stecken tief in Brandenburg.
Ich bin mit dem Rad unterwegs und war eine Station zuvor, als ich auf den verspäteten Zug wartete, in Gedanken schon bei mir in Neukölln, Schlüssel suchend vor meiner Tür, in meiner Küche beim Abendessenimprovisieren und in meinem Bett. Aber es nach Berlin zu schaffen, scheint keine Selbstverständlichkeit mehr zu sein. Die Fahrradfraktion tut sich zusammen und plant, als Gruppe zurückzuradeln. Es sind 40 Kilometer, sagt Google Maps und meine Fahrradkarte sagt, dass es auf die Strecke keinen Radweg gibt. Ich will nicht die Spielverderberin sein, aber ich muss es kommunizieren. Dann ist die Überlegung, die nächste S-Bahn-Station zu erreichen. Auch kompliziert. In der Zwischenzeit werden wir zum gegenüberliegenden Gleis geschickt, wo uns ein anderer Zug abholen soll. Ich sehe alles, als wäre es ein Theaterstück: Ein Soldat, zwei Jugendliche mit Ghettoblaster, eine Familie mit viel Gepäck sind nur einige der Charaktere. Die Sonne geht unter. „Dann werden wir heute keinen Film mehr schauen?“, fragt ein Kind enttäuscht. Die Leute reden miteinander, teilen Tabak und Essen und das alles in Coronazeiten. Ich glaube plötzlich an die Menschheit und an die Solidarität. Trotzdem freue ich mich riesig, kurz vor Mitternacht in Südkreuz endlich angekommen zu sein.
Luciana Ferrando
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