berliner szenen: Alkohol bleibt aber erlaubt
Als im überfüllten 131er die automatische Ansage: „Bitte halten Sie Abstand …“ ertönt, ruft eine alte Dame: „Versuchen wir ja!“ Sie mustert die anderen Fahrgäste und murmelt: „Alle tragen Masken. Ich verstehe einfach nicht, warum die Zahlen steigen.“ Ich runzele die Stirn: „Die Mutation ist ansteckender. Und nicht alle halten sich an Empfehlungen und Regeln zur Eindämmung von Corona.“ Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen: „Die Unsolidarischen sollten damit ins Krankenhaus kommen. Da ändern sie ihre Meinung.“
Ich erwidere nachdenklich: „Vermutlich müssen die, die das Virus verharmlosen, erst jemanden im Freundes- oder Familienkreis haben, der einen schlimmen oder tödlichen Verlauf hat, ehe sie es ernst nehmen.“ Ich denke an die Erzählungen einer Bekannten am Vortag. Obwohl sie alle Kontakte mieden, wurden sie und ihr Mann, zwei ihrer Kinder und ihre Eltern, die im selben Haus leben, infiziert. Woher das Virus kam, blieb offen. Die Schule der Kinder und die Arztpraxis der Familie hatten zeitgleich Coronafälle.
Während der insgesamt siebenwöchigen Quarantäne, erzählte sie, sei die Familie sich selbst überlassen gewesen. Bis ihre Mutter keine Luft mehr bekam: „Da kamen Sanitäter. Aber erst nach drei Stunden, weil der Notdienst meinte, einen normalen Rettungswagen könnten sie nicht schicken. Sonst würde der kontaminiert.“ Auch sonst fühlte sie sich alleingelassen: „Der Mann vom Gesundheitsamt meinte, wir sollten trinken. Er hat echt gesagt: ‚Die Regierung hat Alkohol aus guten Gründen nicht untersagt.‘“
Beim Gedanken an ihre Erfahrungen wird mir mulmig. Beim nächsten Halt denke ich: „Die letzten Stationen laufe ich besser“, sage ich zu der alten Dame: „Passen Sie auf sich auf!“ und stürze schnell aus dem Bus.
Eva-Lena Lörzer
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