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berliner szenenPosieren unter Wolken

Zwei Handwerker arbeiten auf dem sechsstöckigen Haus gegenüber. Der Dachdecker sitzt auf dem First, sein Assistent steht auf einem Gaubenfenster und reicht ihm Werkzeug und Material, jeden Ziegel einzeln. Der Dachdecker nimmt ihn an, passt ihn ein, zieht eine Schraube aus der Hosentasche und greift zum Akkuschrauber. Gleich nach Gebrauch gibt er ihn zurück. Manchmal fordert er mit einer Kopfbewegung zusätzlich einen Hammer an. Stück für Stück geht es vorwärts. Ohne Pause plaudern die beiden Kollegen dabei. Als zwischen den dunklen Wolken ein Streifen knallblauer Himmel hervorkommt, steht der Dachdecker auf, zieht sein Handy aus der Tasche und macht ein Selfie.

Weiter geht’s: Ziegel, Schraube, Akkuschrauber. Aber ab jetzt guckt er immer wieder in die Wolken. Der Himmel sieht spektakulär aus an diesem Vormittag. Anthrazitfarbene Gewitterwolken, dazwischen Sonnenstrahlen, plötzlich weiße Kumuluswolken. Und immer wieder streckt sich der Dachdecker für ein Selfie. Bei einem besonders bizarren Wolkenbild tritt er bedrohlich nahe an den Rand. Ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren, auch das Kind im Homeschooling will keine Präpositionen mehr auflisten. Wir versuchen, so zu stehen wie der Handwerker auf dem Dach. Füße parallel und Sprunggelenke im kleinstmöglichen Winkel gebeugt. Weit runter kommen wir nicht. Blitz, das nächste Selfie, der Dachdecker setzt sich wieder, so lässig wie auf eine Wiese. Warum fotografiert er sich vor diesen wilden Wolken? Das Kind vermutet, dass er seinem Opa zu Weihnachten einen Himmel-Kalender schenken möchte. Weil er so vergnügt posiert, glaube ich eher, dass er am selbstgewählten Valentinstag eine Fotocollage präsentieren möchte: Dachdecker auf Wolke 7.

Claudia Ingenhoven

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