berliner szenen: Was Rosa gedacht hätte
Auf einer Mauer am Rosa-Luxemburg-Steg im Tiergarten liegen Blumensträuße. Die roten Rosen sind schon ganz schlapp, wahrscheinlich liegen sie hier seit dem 15. Januar. Das ist der Tag, an dem Rosa Luxemburg ermordet und anschließend in den Landwehrkanal geworfen wurde. Die Nelken sehen dagegen noch ganz frisch aus, rote und weiße. Vielleicht wurden sie erst nachträglich zum Gedenken abgelegt, oder sie sind so überzüchtet, dass die Blütenblätter bei diesen Temperaturen nicht welken. Ich finde Nelken potthässlich. Ob sie Rosa Luxemburg gefallen hätten, die doch eine große Blumenliebhaberin war? Selbst als sie inhaftiert war, hat sie im Gefängnishof Gräser und Pflanzen gesammelt und in ein Heft geklebt.
Als ich am nächsten Morgen wieder hier vorbeiradele, nehme ich die Blumen nicht mehr wahr. Der Regen hat mir die Brillengläser vollgetropft, ich muss tiefe Pfützen umfahren. Nur die farbigen Zelte der Obdachlosen, die unter der Brücke kampieren, fallen mir auf. Drei haben sich unter einem Mauervorsprung aufgestellt, kerzengerade, die Hände vor der Brust. Machen die etwa Yoga? Fast. Die drei gehören zur Tai-Chi-Gruppe, die sich sonst immer auf dem Rasen trifft.
Viel interessanter sind sowieso die rot-weißen Nelken, die vor mir auftauchen. Eine Frau mit forschem Schritt hält sie in der Hand, nur die paar Blumenstiele, kein Grün, keine Verpackung. Hat sie die jetzt echt Rosa Luxemburg geklaut? Will sie die zu Hause auf den Küchentisch stellen? Mich stören meine missmutigen Gedanken – was hätte denn Rosa gedacht? Rosa hätte das gefallen. Nicht, weil auch sie bestimmt lieber wilde Nelken mochte, sondern weil sie Freude daran hätte, dass die Frau unbedingt Blumen verschenken will. Sogar jetzt, wo doch die Blumenläden geschlossen sind.
Claudia Ingenhoven
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